Musikzimmer von Christian Schorno: Inhaltsübersicht / Overview

Willkommen im Musikzimmer! Dies sind Hinweise auf Archivalien, aktuelle Themen, kuratierte Playlisten, neue Tracks, Alben, Bücher und Artikel.

NZZ: Eurovision: Wir haben den perfekten ESC-Song gebaut

Im Feature bauen die NZZ-Mitarbeiter Pascal Burkhard und Florentin Erb den «perfekten ESC Song». Sie machen, was wahrscheinlich alle machen, die einen Song als technisches Machwerk verstehen. Was sie husch husch demonstrieren, könnte jetzt schon oder in ein paar Jahren auch eine KI. Es ist bemerkenswert, wie bei diesem Konstrukt die wesentlichen Faktoren ausgeblendet werden: Der Mensch, der singt, und seine perönliche Botschaft. Das ausgerechnet Journalisten die Lyrics nicht selber schreiben, sondern sich bei Chat GPT bedienen, ist erstaunlich. Werden sie sich beklagen, wenn sie durch KI ersetzt werden?
Interessant sind die Analysen, die hinter dem Konstrukt stehen. Hier hätte ich gerne mehr über die Quellen erfahren, über die Corpusbildung und die Methoden der Analyse. Haben Burkhard und Erb die musikalischen Merkmale selber erhoben? Kaum. Woher kommen also die Fakten, mit denen wir im Video konfrontiert sind? Die meisten Songs in D-Moll oder ihr Tempo findet man maschinell heraus. Dass Modulation heute eine untergeordnete Rolle spielt, ahnt man als aufmerksame Hörerin oder Hörer. Stimmt das auch für die Balladen?
Das Feature zeigt noch etwas anderes: Mit den technischen Tools auf dem Laptop meint jede und jeder, sie sei auch ein Songwriter, auch eine Designerin, auch ein Texter. Allein, das ist nicht so. Was im Versuch herauskommt, ist «nice», wie Benji Alaso im Video sagt: «Nett». Der Track ist kein Ohrwurm, sein Text ist generisch, die Sängerin gesichtslos. Auf allen Ebenen verloren. «Nice!» ist die selbe Reaktion, die wir haben, wenn wir uns Tracks auf KI-Musikgeneratoren wie Suno, Mureka oder Soundraw anhören. Es reicht für funktionale Musik, aber nicht für einen Event wie den ESC und auch nicht für einen Hit.
Ist der Titel des Features «Wir haben den perfekten ESC-Song gebaut» Ironie oder Bullshit?

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Paul Gambacchini: The World Critic List [1987] (The Top 100 Rock 'n' Roll Albums Of All Time)

Die «World Critics Lists» von 1987 wurde von Paul Gambaccini, dem amerikanisch-britischen Musikjournalist und Radiomoderator, kuratiert und herausgegeben. Es war nach der Erstauflage im Jahr 1978 die überarbeitete zweite Auflage des Buches «Critic's Choice: Top 200 Albums». In den USA hiess es auch «Critics' Choice: The Top 100 Rock 'n' Roll Albums of All Time». Es handelt sich um eine Kanonliste mit den besten Alben in der Pop- und Rockmusik, basierend auf den Einschätzungen von 81 Musikjournalisten, Kritikern, Radiomoderatoren und anderen Persönlichkeiten der Musikindustrie. Im Buch wurde jedes Album der Liste mit einer Beschreibung, der Trackliste, Informationen zur Veröffentlichung und einem Kommentar eines der befragten Persönlichkeiten versehen, der die Bedeutung des Albums rechtfertigte.
Methode
Die Befragten reichten je eine Top-10 ein, die dann gewichtet wurde, um eine Gesamtrangliste zu erstellen. Konkret machten Robert Christgau, Greil Marcus und Dave Marsh mit. Im Gegensatz zur ersten Ausgabe fehlten hier einige prominente Kritiker wie der 1982 verstorbene Lester Bangs oder Nick Kent.
Zur Zeit bemängelte Robert Hilburn von der Los Angeles Times die Einbeziehung von zu vielen Radiomoderatoren und Medienpersönlichkeiten, deren Expertise in der Musikkritik fraglich sei. Hilburn erstellte eine alternative Rangliste, indem er nur die 27 Teilnehmer berücksichtigte, deren Arbeit als Kritiker er kannte, was zu anderen Ergebnissen führte (z. B. Blonde on Blonde an erster Stelle statt Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band.
Kritiker Clinton Heylin nahm die Kritik später auf, dass die Auswahl der Teilnehmer zu viele unkritische Stimmen umfassen würde, z.B. TV-Moderatoren wie Mark Goodman und Alan Hunter von MTV, was die Ergebnisse möglicherweise verzerrte.
Bedeutung der Liste
Die «World Critics Lists» versuchte zum ersten Mal systematisch, eine Kononliste als Konsens über die besten Alben der Pop- und Rockgeschichte zu schaffen. Sie hatte daher Einfluss auf spätere Projekte des Rolling Stone oder die Rock and Roll Hall of Fame. Andererseits zeigte das frühe Projekt, wie schwierig es ist, objektive Massstäbe in der Musikkritik zu setzen. Musikkritiker, die behaupten, Radio- und TV-Moderatoren verstünden weniger von Musik als sie.
Wiedergabe der Liste im Musikzimmer
Da diese Liste im UK veröffentlicht wurde, werden die britischen statt amerikanischen Releases in die Liste aufgenommen, wo sich diese Alternative stellt (z.B. bei Aftermath oder Are You Experienced).

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FKA Twigs: Eusexua

FKA twigs ist eine Avant-Pop-Künstlerin. Obwohl sie abseits vom Mainstream musiziert, haben ihre Songs Hitpotential: «Eusexua kam in der UK Singles Chart auf Platz 3 und in den Billboard Hot 100 auf Platz 24. Bürgerlich heisst die am am 16. Januar 1988 geboren Singer-Songwriterin Tahliah Debrett Barnett. Sie ist eine grossartige Tänzerin (z.B. Pole-Dance), stilisiert ihren Körper, womit sie in der Tradition von Grace Jones steht. Im Unterschied zu Jones inszeniert Twigs ihren Körper aber als Deformation und Mutation.
Die Musik von Twigs ist eine Mischung aus Elektropop (Hybride aus Pop und elektronischer Tanzmusik, emotional-zugänglich, gebrochen tanzbar), Art-Pop (experimentell, konzeptionell, philosophisch), R&B (sinnlich, sexy). Sie verzichtet nachdrücklich auf Retro-Elemente, wodurch sie für den Klang der Gegenwart stehen kann. Vielleicht mit dem Nachteil, dass ihre Musik in zehn Jahren möglicherweise alt klingen kann.
Songstruktur und Form
Verse-Chorus-Bridge-Form mit zwei Pre-Chorussen (unüblich), pCH2 wird wiederholt (seltsam) - folgt teilweise eher der Logik eines Dancetracks, der mit Intensitäten spielt (die Intensität wird aber nicht mit den Songstrukturen abgebildet, was sonst im Electropop üblich ist). Der Songs bildert eine Wellenbewegung oder Oszillation zwischen Intimität und Ekstase ab.
Das Intro kommt mit schwebenden Synthesizern und subtilen, pulsierenden Beats, die eine intime vielleicht hypnotische Stimmung etabliert.
Die Verses kommen mit reduzierter Instrumentierung, die Twigs’ Hauch-Stimme im Falsett in den Vordergrund stellt, begleitet von minimalen elektronischen Texturen.
Die Bridge steht unmittelbar vor der Coda. Möglicherweise kann die Bridge bereits als Coda verstanden werden! Da die Bridge aber ein neues musikalische Thema bringt, tendiere ich zur Interpretation als Bridge.
Musik
Die Harmonien in «Eusexua» bewegen sich in einer Ambivalenz zwischen Dur und Moll. Der Song benutzt manche erweiterte Akkorde, um Spannung zu erzeugen. Am Ende landet der Song auf der Tonika überfrachtet diese aber mit reibenden jazzigen Akkorden, so dass der Song nicht wirklich zur Ruhe kommt.
Die Gesangsmelodie von «Eusexua» ist fragmentiert und abstrakt. Sie besteht aus kurzen, repetitiven Phrasen oft in hoher Lage gesungen, die sich wie Mantras anfühlen. Der Gesang wird mit produktionstechnischen Effekten angereichert, die den Song abwechslungsreich machen.
Der Song ist auf einem pulsierenden Four to the floor Beat gebaut, der vor dem Ende an Intensität gewinnt (schwere Bassdrum, glitchige Percussion-Elemente und synkopiertes Hi-Hat).
Physikalität
Dynamik in Lautstärke, Dichte und beim Beat–Nonbeat. Die Produktion ist meist dünn und texturiert, umso wichtiger sind die einzelnen Sounds!, die nicht «billig» wirken. Diese Produktionsart stellt die Stimme und die Erzählung ins Zentrum.
Lyrics
Die Lyrics sind ein zentraler Bestandteil des Konzepts, da sie die Erfindung eines neuen Wortes – «Eusexua» – rechtfertigen. «Eusexua» («eu» griech für wohl-, schön-, gut- und «sexua») nennt Twigs nicht einfach guten Sex, sondern einen Zustand, den andere als «Flow» bezeichnen bzw. – nun sind wir ganz präzis! – den Zustand unmittelbar vor dem Flow-Erlebnis - im Sport, im Sex, im Denken. Das ist ein philosophisches Thema – keine gängige Ware in der Popmusik.
Die Frage lautet folglich, ob die Musik den Zustand der Eusexua inszeniert. Eine Spannung, die sich löst, z.B. ein Flow, der sich einstellt. Im Unterschied zu EDM-Tracks haben wir hier nur einen Intensitätshöhepunkt im Song (die Sequenz vor der Bridge), wo der Track in einen Flow gerät, der aber nach 32 Takten wieder zusammenfällt (Pause vor Bridge oder Coda).
Mit «Eusexua» ist ein universelles Gefühls benannt, das vorsprachlich ist («Words cannot describe / This feeling deep inside»). Der Text oszilliert zwischen Verletzlichkeit («Do you feel alone?») und Empowerment («You’re not alone»), was eine Reise aus der individuellen Isolation zu einer vielleicht mystischen Selbstbefreiung in der Vereinigung mit universellen Kräften und Rhythmen andeutet («King-sized / I'm vertical sunrised / Like flying capsized / Free, I see you are»). «Eusexua» verbindet offenbar Körper und Geist in einer Selbsttranszendenz.
Arrangement
Das Arrangement ist skeletal, dünn, transparent und daher überschaubar. Es verändert sich laufend.
Die Produzenten (u.a. Koreless und Eartheater sorgten dafür, dass jedes Element klar hervortreten kann. Synthesizer-Pads benutzen schwebende und glitchige Sounds, die eine futuristische Atmosphäre schaffen.
Gesang
FKA Twigs’ Gesang in «Eusexua» ist meist im Falsett, klingt aber vielseitig und expressiv. Die Produktion arbeitet mit vielen Vokaleffekten: Man kann hören: intime Whispers, Geisterstimmen-Effekte, Auto-Tune und reverbhaltigen Falsett-Gesang. Die Stimme wirkt in den ruhigen Stellen fragil, ätherisch und verletzlich, im extatischen EDM-Teil hingegen kraftvoll, selbstgewiss auch in der hohen Lage. Hier drückt sie Gewissheit, Selbstbefreiung und «Empowerment» aus, hier steckt sie an und reisst mit.
Sound
Der Sound von «Eusexua» zeichnet sich durch Glitch- und Industrial-Klänge aus: Es werden verzerrte und verwitterte Synth-Klänge verwendet. Die Arpeggios wirken leicht und lebendig, verweigern sich aber einer musikalischen Leiblichkeit. Der Song lebt stärker von der Vokal- als der musikalischen Produktion.

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Phonautograph

Der Phonautograph, erfunden von Édouard-Léon Scott de Martinville und patentiert am 25. März 1857, ist der erste Apparat, mit dem Schallwellen aufgezeichnet werden konnten. Vor ihm waren lediglich Chladnische Klangfiguren bekannt und man wusste seit der Renaissance, dass Schall sich in Wellen ausbreitete. Scott de Martinville arbeitete bei einem wissenschaftlichen Verlag und liess sich von einem Buch über die Anatomie des menschlichen Ohrs anregen, über das Problem, wie gesprochene Sprache sich selbst schreiben könne («le problème de la parole s'écrivant elle-même», nachzudenken. Das war 1853 oder 1854. Der Apparat müsste funktionieren, wie das menschliche Ohr, dachte er sich. Er baute einen Trichter, der Schallwellen auf eine Schweinsleder-Membran richtet. An der Membran befestigte er einen Stift, der die Schwingungen auf eine mit Russ beschichtete, rotierende Papier- oder Glaswalze kratzt. Diese visuellen Schallspuren, nannte er Phonautogramme. Es waren Schallaufzeichnungen, für die es damals keine Abspielmöglichkeit gab. Die «Schallbilder» dienten insofern der Analyse von Schallwellen. Erst mit moderner Technologie wurden 2008 einige von Scott de Martinvilles Aufzeichnungen vom Lawrence Berkeley National Laboratory digital rekonstruiert und hörbar gemacht. Seither gelten diese Aufnahmen als die frühesten Schallaufzeichnungen. Sie sind 1857 und 1860 entstanden, 17 Jahre vor den Aufzeichnungen von Thomas A. Edison.

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Nick Drake: Northern Sky

«Northern Sky» ist vielleicht die beste Aufnahme eines Songs von Nick Drake, eine romantische Ballade, introvertiert, wie im Halbschlaf vorgetragen, verschleiert und doch intensiv empfunden. Der Song ist eine Liebeserklärung an eine Person, die den Erzähler getroffen und berührt hat. Nun schwankt er zwischen Ekstase und Unsicherheit. John Cale fungiert als Arrangeur und spielt als Sessionmusiker Hammondorgel, Celesta und ein launisches Piano (Stichwort: Rubato). Sein Beitrag verleiht dem Song eine unerhörte musikalische Imagination und bringt die Aufnahme in eine Liga, die weder Drake noch Produzent Joe Boyd ohne ihn hätten erreichen können.
Songstruktur
Der Song hat melodisch zwei verschiedene Verses, die aber mit der selben Harmonik arbeiten. Mit der instrumental Bridge in der Mitte des Songs, ergibt das eine ABCBA-Form. Diese Form ist eine progressive Variante der Balladenform, die deutlich erkennbar ist. Progressiv an der Ballade sind die Verses, die in Varianten (A und B) kommen und eben die Bridge, eine Entlehnung aus der Rock-Musik der Zeit, wo Bridges ein konstitutiver Strukturteil darstellen.
Der Refrain ist ein gereimter. Wiederholt wird nur «Brighten my northern sky» zusammen mit dem gesamten ersten Verse. Die Refrain-Zeilen der B-Verses reimen sich mit dieser Titelzeile: «Straighten my new mind's eye» und «Come blow your horn on high».
Besetzung

Die Instrumente werden präzise und sparsam eingesetzt. Die Rhythmussection unterstützt den skelettalen Song, die Tasteninstrumente von John Cale hingegen setzen gezielte Farbtpfer, mit viel Raum. Die Hammondorgel erdet den Song, die Celesta suspendiert ihn im Ätherischen, das Piano gibt ihm Spannung und Antrieb. Harmonie
Der Song ist in Es-Dur (Es, F, G, As, B, C, D). Ein zirkulärer Wechsel zwischen I und ii7 bildet die harmonische Basis, die man im Intro, dem Verse bis zum Refrain, den Zwischenspielen und der Coda hört. Der Song macht wiederkehrenden Gebrauch vom chromatischen bVII-Akkord, einer myxoldischen Färbung, die dem Song eine bittersüsse Note verleiht (andere Songs, die den Akkord verwenden, sind With or Without You oder Creep.) Interessant ist, dass die Dominante im Refrain nicht in eine Kadenz eingebaut ist. Nur am Ende der Bridge wird die Dominante ganz prominent eingesetzt, um für einen grossen dramatischen Moment zu sorgen.
Intertextualität
Seymour Stein von Belle and Sebastian ist ein Song, der die harmonische Sprache von «Northern Sky» kopiert.
Der Song kam in den Soundtrack von «Serendipity» (2001) mit John Cusack und Kate Beckinsale.

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Classic Pop: Top 40 New Romantic Songs

Von Spandau und Visage zu Telex, Brian Eno, Soft Cell, Gina X Performance, Can, Space und – ja tastächlich! – Sweet. Die Liste enthält 40 New Romantic Songs.

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Vorlesung: «Vom Notenblatt zum Stream»

Wegen einem Krankheitsfall in der Familie findet die Vorlesung: «Vom Notenblatt zum Stream» an der Universität St. Gallen nicht statt. (Kein Aprilscherz!)

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1000 UK Artists: Is This What We Want?

Die Tech-Branche ging bisher davon aus, dass sie ihre AI-Modelle unter Fair-use trainieren könne. Damit hat sie sich den gesamten Katalog der Major Labels unter den Nagel gerisen und verdient seit Monaten Geld mit generativen Musikplattformen.
Labels und Künstler*innen raufen sich nun post festum zusammen, um dagegen zu protestieren, zum Beispiel mit dieser Veröffentlichung von zwölf Tracks, die im Prinzip Studioräume aufnimmt, in denen keine Musik gespielt wird. «Ist das, was wir wollen?» fragt der Albumtitel.
In einer Welt, in der ein Land wie das Vereinigte Königreich nicht noch mehr von den USA und den Chinesen abgehängt werden will, stllt sich schon die Frage, wo die Künstlerinnen und Künstler ihre Verbündetn finden werden.
In den USA hat die neue Regieurung unter Donald Trump an ihrem ersten Tag klar gemacht, wo sie steht. Die Vorarbeiten der Biden-Administration zum Entwurf einer Gesetzesvorlge wurden vom Netz genommen.
Dann noch die Frage: Ist dieser Release wrklich ein starkes Manifest gegen die Tech-Freundlichkeit? Müsste man nicht in einer Form protestieren, bei der das Publikum hinhört? Dieses Album leistet doch genau das Gegenteil.

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Schnulze

Mit «Schnulze» ist ein sentimentales Lied oder Musikstück am Rand des Kitsches oder jenseits der Kitsch-Grenze gemeint. Der umgangssprachliche Begriff stammt aus dem deutschen Sprachraum der Nachkriegszeit. Der österreichische TV-Redakteur Harry Hermann soll den Begriff geprägt haben, wobei nicht klar ist, ob er von «Schmalz» abgeleitet oder ein Versprecher war. Wer von einer «Schnulze» spricht, wertet Musik oder Song in aller Regel als künstlerisch minderwertiges Werk ab. Von der Musik wurde die Schnulze auch auf Theater, Literatur, Film und TV-Produktionen im selben Sinn übertragen (z.B. «Heimatschnulze»). Der Begriff kommt nicht zufällig aus den Reihen der Programmverantwortlichen öffentlichrechtlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten. Deren Redaktionsmitglieder waren als staatlich finanzierte Mitarbeitende in der Pflicht, beliebte populäre Inhalte zu senden, hatten aber ganz andere Ansprüche an Musik, Theater usw.
Seit vielen Jahren sind Schnulzen vor allem in queeren Kreisen rehabilitiert und ein Ausdruck von Campness.
Querverweise
Camp
Melodrama
Schlock

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Queen: Killer Queen

«Killer Queen» von Freddie Mercury war die Lead-Single aus dem Album Sheer Heart Attack. Queen präsentiert mit dem Song eine interessante Mischung aus zeitgenössischem Glamrock und theatralischem Music-Hall-Stil. Strukturell ein kondensierter, aber eleganter Song, produktionstechnisch ziemlich abgedreht und ein mächtiger Schritt vorwärts auf dem Weg Freddie Mercurys zum theatralischen Bühnenstar.
Die Single wurde der erste grosse Hit von Queen, der Durchbruch der Band. Er kam auf Platz zwei der britischen Charts.
Im Katalog der Band ist der Song die Ankündigung von «A Night At the Opera». Der Song zeigt Queens Fähigkeit, Genres zu verschmelzen und gleichzeitig einen unverwechselbaren Sound zu kreieren.
Struktur
Der Song kommt als Verse-Chorus-Bridge Form mit Pre- und Post-Chorus. Die Sequenzen sind relativ kurz, so dass der Song immer in Bewegung bleibt.
Das Intro (ein Non-Intro?) besteht aus einem minimalen Fingerschnippen (mit Doubletracking), das Schnippen wurde für mehr Präsenz nahe aufgenommen (close-miking).
Es gibt keine langen Strukturteile, nichts Überflüssiges, keine Wiederholungen. Der Chorus dauert sechs Takte und ist das einzige Element, das wiederholt wird. Das macht den Song strukturell sehr dicht.
Harmonie
Der Song ist in Es-Dur, hat einige Modulationen, chromatische Linien, Sekundärdominanten. Die Harmoniefolge im Verse ist möglicherweise von Sunny Afternoon mit seiner absteigenden chromatische Linie inspiriert.
Im Chorus („She’s a Killer Queen…“) wechseln die Akkorde schnell zwischen Dur- und Moll-Tönen, oft mit hinzugefügten Septimen und None-Akkorden, was ihn jazzig und raffiniert macht
Der Einsatz von verminderten Akkorden und unerwarteten Modulationen (z. B. kurzzeitig nach Fis-Moll im Pre-Chorus) verleiht dem Song eine unvorhersehbare, aber elegante Dynamik.
Melodie
Die Melodie benutzt einen weiten Tonumfang, der Mercurys stimmliche Fähigkeiten zur Geltung bringt und dramtisch wirkt.
Rhythmus, Metrum
Das Tempo ist moderate (115 BPM). Metrum: 4/4-Takt, aber mit synkopierten Akzenten und gelegentlichen rhythmischen Verschiebungen (2/4-Takte), die für Überraschung sorgen und die erzählerische Qualität der Verses unterstützen. Rhythmisch kommt der Takt mit leichtem Swing
Arrangement, Instrumentierung
Gesang: Freddie Mercurys Gesang: Man hört bei «an invitation | You can't DECLINE» den gleitenden Übergang vom natürlichen Register zum Falsett-Gesang. Überhaupt springt die Stimme oft zwischen dem natürlichen Register und dem Falsett, was Dramatik erzeugt.
Gesang: Dynamisch mit der Mischung aus kraftvollem Belting und subtilen, weichen Phrasen.
Gesang und Backing-Gesang: Dicht arrangierte mehrstimmigen Harmonien (mit Brian May und Roger Taylor als Backgroundsänger) – am lebendigsten in der zweiten Verse-Chorus Sequenz.
Phrasierung: Die Verse sind fast sprechend, wie ein musikalisches Erzählen, während der Chorus eine hymnische, mitreissende Qualität hat.
Klavier: Freddie Mercurys Klavierspiel ist zentral – es treibt den Song voran mit perkussiven Akkorden und eleganten Läufen, die an Vaudeville oder Music-Hall erinnern.
Gitarre: Brian Mays Gitarrenarbeit ist subtil, aber markant. Das Solo (ab ca. 2:00) ist kurz, melodisch und perfekt in den Song eingebettet, mit seinem typischen, mehrschichtigen Klang (dank der Red Special und Overdubs). Im zweiten Post-Chorus klingt die Gitarre wie ein Cello, mit dem Phasing wie Bläser und im Instrumental Verse wie eine Geige.
Bass: John Deacons Basslinie ist unaufdringlich, aber präzise und unterstützt die chromatischen Bewegungen.
Schlagzeug: Roger Taylors Drumming ist zurückhaltend, mit einem swingenden Rhythmus und gezielten Akzenten (z. B. die Glocke im Refrain), die den Song leichtfüssig halten.

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Beatles: I'll Be Back

Rick Beato hat vor ein paar Tagen ein Video zu I'll Be Back gepostet, zu dem ich ein «listening chart» gezeichnet habe. ich erinnere mich, als ich diesen Song zum als Teenager hörte, dass er ganz was Spezielles ist, freilich ohne erklären zu können, warum.

Der Closing-Track von A Hard Day's Night, ein hauptsächlich von John Lennon komponierter idosynkratischer Track mit vielen Anomalien. Musikalisch ein wahrer Ausbruch von Kreativität, eine Prophezeiung von dem, was später von der Gruppe gekommen ist.
Struktur
Der Song weist zwei verschiedene Bridges auf und weicht vom AABA-Standard ab. John Covach bezeichnet die Struktur als modifizierte AABA-Form. Dass der Song mitten in einem Verse unerwartet ausgeblendet wird, trägt zur Exzentrizität des Songs bei.
Intertextualität
Ian MacDonald stellte fest, dass «I'll Be Back» auf Del Shannons Song Runaway beruht. Der ursprüngliche Brillbuilding-Popsong erhält unter Lennons Eingriff ein Flamenco-Arrangement und damit ein distinktives europäisches Flair.
Musik
Der Song kippt gut hörbar zwischen A-Dur und A-Moll hin und her. Das reflektiert den lyrischen Inhalt des Lieds, in dem es um eine Off/On-Bezeihung geht.
Auch metrisch weicht der Song stellenweise vom 4/4-Takt bzw. der Standard-Zeit ab: Beide Bridges weisen 2/4-Takte auf (siehe Slide).
Links, Quellen
– Rick Beato: Is This The Beatles’ Strangest Song? (No Chorus, Two Bridges!) (9. Februar 2025)

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Begriffsgeschichte

Es gibt seit dem 20. Jahrhundert eine philosophische und geisteswissenschaftliche Schule, die sich mit Begriffsgeschichte befasst. Zu dieser Schule gehörten Hans Blumenberg oder Joachim Ritter, der das «Historischen Wörterbuch der Philosophie» herausgegeben hat, ein zwölf-bändiges Mammutwerk, in dem philosophische Begriffe historisch erläutert werden. Wörter sind unscharfe Werkzeuge des Denkens, weil ein und dasselbe Wort verschiedene konkrete und ideale Dinge bezeichnen können und weil diese Dinge jeweils von verschiedenen Wörtern bezeichnet werden können. Es kommt hinzu, dass es nicht eine, sondern viele Sprachen gibt, deren Wörter sich manchmal nicht eindeutig in eine andere Sprache übersetzen lassen.
Es ist eine lottrige Sache mit den Wörtern, so dass viele Wissenschaften sich lieber auf Zahlen und Berechenbarkeit verlassen. Zahlen sind eindeutig und verlässlich, Wörter hingegen vage und instabil. Die ausweichende Flucht in die Zahlen hilft aber in vielen Fällen nicht. Man muss auch Arithmetik und Algebra, bevor man sie betreibt, mit Wörtern erklären. Viele Dinge wie Politik oder Rechtssprechung kann man nicht mit Mathematik betreiben. Auch ein Unternehemn führt man nicht mit Buchhaltung und Controlling allein.
Die Bedeutung von Wörtern ändert sich mit der Zeit, mit den Personen, die sie gebrauchen, mit den wissenschaftlichen Schulen und den Fächern/Disziplinen. Der Soziologe Niklas Luhmann sprach davon, dass Sinn mit der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz operiere und damit eine Form mit zwei Seiten sei. Er machte klar, dass Sinn als System für sich selbst unkalkulierbar sei. Sein unbestimmter Zustand sei nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Ausseneinwirkungen zurückzuführen, sondern auf das System selbst. In funktionaler Hinsicht kann man sagen: Die Sprache muss vage und unbestimmt sein, damit sie mit verhältnismässig wenig Vokabular auf die ungeheure Vielfalt der Situationen referenzieren kann, die uns Menschen täglich begegnen.
Die Begriffsgeschichte hat das Verständnis von Begriffen und ihrer Rolle in der Philosophie, den Geisteswissenschaften und der Gesellschaft massgeblich geprägt. Sie hat uns geholfen, die Historizität unseres Denkens zu erkennen und die Bedeutung von Kontexten für die Bedeutung von Begriffen zu verstehen.
Grundzüge der Begriffsgeschichte

  • Historizität von Begriffen: Begriffe werden nicht als zeitlose, unveränderliche Einheiten betrachtet, sondern als Produkte historischer und gesellschaftlicher Prozesse.
  • Kontextualisierung: Begriffe werden in ihren jeweiligen Kontexten analysiert, um ihre Bedeutung und Funktion zu verstehen.
  • Begriffsarbeit (Begriff von Hans Blumenberg): Die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte erfordert eine sorgfältige Analyse von Texten, Diskursen und kulturellen Praktiken. Blumenberg ging es mit der «Begriffsarbeit» um die Rekonstruktion der historischen Kontexte, in denen Begriffe entstanden und sich verändert haben. Dazu musste die «Lebenswelt» analysiert werden, in der Begriffe verwendet wurden.
  • Interdisziplinarität: Begriffsgeschichte ist eine interdisziplinäre Angelegenheit, die Erkenntnisse aus der Philosophie, Geschichte, Sprachwissenschaft und anderen Disziplinen vereint.
  • Wirkungsgeschichte: Die Begriffsgeschichte untersucht auch, wie sich Begriffe im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt haben und welche Auswirkungen dies auf unser Denken und Handeln hat.
Institutionen
Neben den genannten Personen haben sich auch Institutionen der Begriffsgeschichte verschrieben, wie z.B. das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam oder das Archiv für Begriffsgeschichte in Bonn.
Links, Quellen
– Wikipedia: Historisches Wörterbuch der Philosophie
– Wikipedia: Historisches Wörterbuch der Rhetorik

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