Willkommen im Musikzimmer! Dies sind Hinweise auf Archivalien, aktuelle Themen, kuratierte Playlisten, neue Tracks, Alben, Bücher und Artikel.
Queen: Killer Queen
«Killer Queen» von Freddie Mercury war die Lead-Single aus dem Album Sheer Heart Attack. Queen präsentiert mit dem Song eine interessante Mischung aus zeitgenössischem Glamrock und theatralischem Music-Hall-Stil. Strukturell ein kondensierter, aber eleganter Song, produktionstechnisch ziemlich abgedreht und ein mächtiger Schritt vorwärts auf dem Weg Freddie Mercurys zum theatralischen Bühnenstar.
Die Single wurde der erste grosse Hit von Queen, der Durchbruch der Band. Er kam auf Platz zwei der britischen Charts.
Im Katalog der Band ist der Song die Ankündigung von «A Night At the Opera». Der Song zeigt Queens Fähigkeit, Genres zu verschmelzen und gleichzeitig einen unverwechselbaren Sound zu kreieren.
Struktur
Der Song kommt als Verse-Chorus-Bridge Form mit Pre- und Post-Chorus. Die Sequenzen sind relativ kurz, so dass der Song immer in Bewegung bleibt.
Das Intro (ein Non-Intro?) besteht aus einem minimalen Fingerschnippen (mit Doubletracking), das Schnippen wurde für mehr Präsenz nahe aufgenommen (close-miking).
Es gibt keine langen Strukturteile, nichts Überflüssiges, keine Wiederholungen. Der Chorus dauert sechs Takte und ist das einzige Element, das wiederholt wird. Das macht den Song strukturell sehr dicht.
Harmonie
Der Song ist in Es-Dur, hat einige Modulationen, chromatische Linien, Sekundärdominanten. Die Harmoniefolge im Verse ist möglicherweise von Sunny Afternoon mit seiner absteigenden chromatische Linie inspiriert.
Im Chorus („She’s a Killer Queen…“) wechseln die Akkorde schnell zwischen Dur- und Moll-Tönen, oft mit hinzugefügten Septimen und None-Akkorden, was ihn jazzig und raffiniert macht
Der Einsatz von verminderten Akkorden und unerwarteten Modulationen (z. B. kurzzeitig nach Fis-Moll im Pre-Chorus) verleiht dem Song eine unvorhersehbare, aber elegante Dynamik.
Melodie
Die Melodie benutzt einen weiten Tonumfang, der Mercurys stimmliche Fähigkeiten zur Geltung bringt und dramtisch wirkt.
Rhythmus, Metrum
Das Tempo ist moderate (115 BPM). Metrum: 4/4-Takt, aber mit synkopierten Akzenten und gelegentlichen rhythmischen Verschiebungen (2/4-Takte), die für Überraschung sorgen und die erzählerische Qualität der Verses unterstützen. Rhythmisch kommt der Takt mit leichtem Swing
Arrangement, Instrumentierung
Gesang: Freddie Mercurys Gesang: Man hört bei «an invitation | You can't DECLINE» den gleitenden Übergang vom natürlichen Register zum Falsett-Gesang. Überhaupt springt die Stimme oft zwischen dem natürlichen Register und dem Falsett, was Dramatik erzeugt.
Gesang: Dynamisch mit der Mischung aus kraftvollem Belting und subtilen, weichen Phrasen.
Gesang und Backing-Gesang: Dicht arrangierte mehrstimmigen Harmonien (mit Brian May und Roger Taylor als Backgroundsänger) – am lebendigsten in der zweiten Verse-Chorus Sequenz.
Phrasierung: Die Verse sind fast sprechend, wie ein musikalisches Erzählen, während der Chorus eine hymnische, mitreissende Qualität hat.
Klavier: Freddie Mercurys Klavierspiel ist zentral – es treibt den Song voran mit perkussiven Akkorden und eleganten Läufen, die an Vaudeville oder Music-Hall erinnern.
Gitarre: Brian Mays Gitarrenarbeit ist subtil, aber markant. Das Solo (ab ca. 2:00) ist kurz, melodisch und perfekt in den Song eingebettet, mit seinem typischen, mehrschichtigen Klang (dank der Red Special und Overdubs). Im zweiten Post-Chorus klingt die Gitarre wie ein Cello, mit dem Phasing wie Bläser und im Instrumental Verse wie eine Geige.
Bass: John Deacons Basslinie ist unaufdringlich, aber präzise und unterstützt die chromatischen Bewegungen.
Schlagzeug: Roger Taylors Drumming ist zurückhaltend, mit einem swingenden Rhythmus und gezielten Akzenten (z. B. die Glocke im Refrain), die den Song leichtfüssig halten.
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Vorlesung: «Vom Notenblatt zum Stream. Mediale Umbrüche als Motor populärer Musik» im öffentlichen Programm der USG
In meiner neuen Vorlesung «Vom Notenblatt zum Stream» erzähle ich eine Geschichte des modernen populären Songs. Diese Geschichte legt den Akzent auf Medien, Recht und Wirtschaft.
Popmusik fasziniert mit Ohrwürmern, Megastars in ausverkauften Stadien, unvorstellbar hohen Streaming-Zahlen und neuerdings TikTok-Kurzvideos mit tanzenden Kids aus aller Welt. Populäre Lieder erzeugen Resonanz mit besonderen biografischen Momenten, nisten sich in der Erinnerung ein und festigen den sozialen Kitt.
Die Vorlesung taucht in den musikhistorischen Kontext von erfolgreichen populären Liedern aus den USA ein und spürt den gesellschaftlichen Bedingungen ihres Erfolgs nach. Welche Rolle spielten die Medien, das Urheberrecht und die Geschäftsmodelle, die sie vermarkteten?
Diese Geschichte führt zurück ins Jahr 1893, als mit Edisons Phonograph zum ersten Mal Lieder aufgezeichnet und verkauft wurden sowie das Verlagssystem entstanden ist, das man später «Tin Pan Alley» genannt hat.
Seither stellten neue mediale Erfindungen wie der Rundfunk, die Vinylplatten und schliesslich das Internet und die Cloud etablierte gesellschaftliche Standards in Frage. Das Urheberrecht musste einige Male auf die aktuellen technischen Gegebenheiten reagieren. Auch Verlage, Labels und Musikerinnen und Musiker erlebten die medialen Umbrüche als disruptiven Einfluss. Sie mussten ihre Geschäftsmodelle anpassen.
Man staunt, dass durch all diese Veränderungen der populäre Song überlebte. Dennoch haben wir heute den Eindruck, dass eine grosse Tradition zu Ende geht. Vielleicht liegt der Grund für dieses Ende aber weniger bei den Kreativen als bei den gesellschaftlichen Bedingungen des Musizierens.
Wann: Mittwoch 23. und 30. April, 14. und 21. Mai 2025: 18:15 - 19:45 Uhr
Wo: Universität St. Gallen, siehe Lageplan
– zur Webseite des öffentlichen Programms
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– Kosten: Preis: eine Vorlesung gratis, zwei und mehr Vorlesungen: 20.– (Einzahlungsschein)
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Volkshochschule Solothurn: Die Musik von David Bowie: Eine musikalische Entdeckungsreise
Erleben Sie berühmte Songs von David Bowie mit neuen Ohren! Dieser Kurs ist eine Einladung zum aktiven Zuhören, eine Schule der musikalischen Wahrnehmung, die aus Ihrem Musikhören ein Erlebnis macht. «Qualifizierte Rezeption» – so nennen wir diese Form des bewussten Musikhörens. Sie schärft Ihre Sinne und ermöglicht Ihnen einen intensiveren Zugang zu Popmusik.
Gemeinsam entschlüsseln wir die Geheimnisse hinter David Bowies ikonischen Songs. Lernen Sie, Songstrukturen zu erkennen, Instrumente zu identifizieren sowie Aufnahmetechniken wie «Doubletracking» zu hören. Wir befassen uns mit Bowies Texten und seiner musikalischen Sprache. Ich wollte herausfinden, was Bowies Musik so besonders macht. Diese Frage stand am Anfang einer intensiven Analyse von 50 Bowie-Songs. Gibt es eine «musikalische und gesangliche DNA», die sich durch Bowies vielfältige Verwandlungen als Bühnenfigur zieht?
Sie möchten die Musik von David Bowie besser kennenlernen oder sie neu entdecken? Begeben Sie sich mit mir auf die musikalische Entdeckungsreise im Song-Katalog von David Bowie.
Diese Veranstaltung ist für Bowie- und Pop-Fans geeignet, die ihr Hörerlebnis vertiefen möchten. Vorkenntnisse in Musiktheorie sind nicht erforderlich.
Mo 28.04.2025 und Mo 05.05.2025 18:00 – 19:30 Uhr
Buchen auf der Webseite der VHS Solothurn, Standard-Preis: 68.–, Mitglieder: 64.60, Caritas KulturLegi 47.60
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Volkshochschule Solothurn: Freddie Mercury: «Lover of Life, Singer of Songs»
Wer war Freddie Mercury? Ein «lebenshungriger Rock Sänger», wie es auf seiner Statue in Montreux steht – «Lover of Live, Singer of Songs»? Die zweiteilige Vorlesung wirft einen Blick hinter das englische Understatement und zeigt Leben, Songs und Auftritte des unvergessenen Sängers und Musikers im Licht von Ambition, Pomp und Exzess. Sie betrachtet die musikhistorische Rolle der Band Queen und Mercury und zeigt eine Band, die am Ende den Glanz ihres Frontmanns zur alleinigen «raison d’être» erhoben hat.
Queen gehört zu den erfolgreichsten Rock Bands aller Zeiten und Freddie Mercury die Personifizierung des charismatischen Frontmanns. Die damalige Fachpresse indes fand Queen nur furchtbar. Geschichtsbücher der Rockmusik erwähnen die Band, aber besprechen sie nicht. Wie kann man sich das erklären?
Die Vorlesung behandelt wichtige Songs wie «Killer Queen», «Bohemian Rhapsody», Konzerte wie der Auftritt bei «Live Aid» oder Videos wie «It’s A Hard Life». Die Musik und die Videos sind auf den einschlägigen Plattformen zu finden.
Mi 19.03.2025 und Mi 26.03.2025 18:00 – 19:30 Uhr
Buchen auf der Webseite der VHS Solothurn, Standard-Preis: 68.–, Mitglieder: 64.60, Caritas KulturLegi 47.60
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Beatles: I'll Be Back
Rick Beato hat vor ein paar Tagen ein Video zu I'll Be Back gepostet, zu dem ich ein «listening chart» gezeichnet habe. ich erinnere mich, als ich diesen Song zum als Teenager hörte, dass er ganz was Spezielles ist, freilich ohne erklären zu können, warum.
Der Closing-Track von A Hard Day's Night, ein hauptsächlich von John Lennon komponierter idosynkratischer Track mit vielen Anomalien. Musikalisch ein wahrer Ausbruch von Kreativität, eine Prophezeiung von dem, was später von der Gruppe gekommen ist.
Struktur
Der Song weist zwei verschiedene Bridges auf und weicht vom AABA-Standard ab. John Covach bezeichnet die Struktur als modifizierte AABA-Form. Dass der Song mitten in einem Verse unerwartet ausgeblendet wird, trägt zur Exzentrizität des Songs bei.
Intertextualität
Ian MacDonald stellte fest, dass «I'll Be Back» auf Del Shannons Song Runaway beruht. Der ursprüngliche Brillbuilding-Popsong erhält unter Lennons Eingriff ein Flamenco-Arrangement und damit ein distinktives europäisches Flair.
Musik
Der Song kippt gut hörbar zwischen A-Dur und A-Moll hin und her. Das reflektiert den lyrischen Inhalt des Lieds, in dem es um eine Off/On-Bezeihung geht.
Auch metrisch weicht der Song stellenweise vom 4/4-Takt bzw. der Standard-Zeit ab: Beide Bridges weisen 2/4-Takte auf (siehe Slide).
Links, Quellen
– Rick Beato: Is This The Beatles’ Strangest Song? (No Chorus, Two Bridges!)
(9. Februar 2025)
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Begriffsgeschichte
Es gibt seit dem 20. Jahrhundert eine philosophische und geisteswissenschaftliche Schule, die sich mit Begriffsgeschichte befasst. Zu dieser Schule gehörten Hans Blumenberg oder Joachim Ritter, der das «Historischen Wörterbuch der Philosophie» herausgegeben hat, ein zwölf-bändiges Mammutwerk, in dem philosophische Begriffe historisch erläutert werden. Wörter sind unscharfe Werkzeuge des Denkens, weil ein und dasselbe Wort verschiedene konkrete und ideale Dinge bezeichnen können und weil diese Dinge jeweils von verschiedenen Wörtern bezeichnet werden können. Es kommt hinzu, dass es nicht eine, sondern viele Sprachen gibt, deren Wörter sich manchmal nicht eindeutig in eine andere Sprache übersetzen lassen.
Es ist eine lottrige Sache mit den Wörtern, so dass viele Wissenschaften sich lieber auf Zahlen und Berechenbarkeit verlassen. Zahlen sind eindeutig und verlässlich, Wörter hingegen vage und instabil. Die ausweichende Flucht in die Zahlen hilft aber in vielen Fällen nicht. Man muss auch Arithmetik und Algebra, bevor man sie betreibt, mit Wörtern erklären. Viele Dinge wie Politik oder Rechtssprechung kann man nicht mit Mathematik betreiben. Auch ein Unternehemn führt man nicht mit Buchhaltung und Controlling allein.
Die Bedeutung von Wörtern ändert sich mit der Zeit, mit den Personen, die sie gebrauchen, mit den wissenschaftlichen Schulen und den Fächern/Disziplinen. Der Soziologe Niklas Luhmann sprach davon, dass Sinn mit der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz operiere und damit eine Form mit zwei Seiten sei. Er machte klar, dass Sinn als System für sich selbst unkalkulierbar sei. Sein unbestimmter Zustand sei nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Ausseneinwirkungen zurückzuführen, sondern auf das System selbst. In funktionaler Hinsicht kann man sagen: Die Sprache muss vage und unbestimmt sein, damit sie mit verhältnismässig wenig Vokabular auf die ungeheure Vielfalt der Situationen referenzieren kann, die uns Menschen täglich begegnen.
Die Begriffsgeschichte hat das Verständnis von Begriffen und ihrer Rolle in der Philosophie, den Geisteswissenschaften und der Gesellschaft massgeblich geprägt. Sie hat uns geholfen, die Historizität unseres Denkens zu erkennen und die Bedeutung von Kontexten für die Bedeutung von Begriffen zu verstehen.
Grundzüge der Begriffsgeschichte
- Historizität von Begriffen: Begriffe werden nicht als zeitlose, unveränderliche Einheiten betrachtet, sondern als Produkte historischer und gesellschaftlicher Prozesse.
- Kontextualisierung: Begriffe werden in ihren jeweiligen Kontexten analysiert, um ihre Bedeutung und Funktion zu verstehen.
- Begriffsarbeit (Begriff von Hans Blumenberg): Die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte erfordert eine sorgfältige Analyse von Texten, Diskursen und kulturellen Praktiken. Blumenberg ging es mit der «Begriffsarbeit» um die Rekonstruktion der historischen Kontexte, in denen Begriffe entstanden und sich verändert haben. Dazu musste die «Lebenswelt» analysiert werden, in der Begriffe verwendet wurden.
- Interdisziplinarität: Begriffsgeschichte ist eine interdisziplinäre Angelegenheit, die Erkenntnisse aus der Philosophie, Geschichte, Sprachwissenschaft und anderen Disziplinen vereint.
- Wirkungsgeschichte: Die Begriffsgeschichte untersucht auch, wie sich Begriffe im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt haben und welche Auswirkungen dies auf unser Denken und Handeln hat.
Neben den genannten Personen haben sich auch Institutionen der Begriffsgeschichte verschrieben, wie z.B. das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam oder das Archiv für Begriffsgeschichte in Bonn.
Links, Quellen
– Wikipedia: Historisches Wörterbuch der Philosophie
– Wikipedia: Historisches Wörterbuch der Rhetorik
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Charles Hamm: Modernist Narratives and Popular Music
«Putting Popular Music in its Place» ist eine Sammlung von Essays von Charles Hamm, die sich mit der Geschichte und dem Kontext der populären Musik befassen und die Beziehung dieser Musik zu anderen Gattungen – vor allem der klassischen Musik – untersucht. Hamm interessiert sich zudem dafür, wie das Publikum populäre Musik interpretiert und wie Institutionen sie für ihre eigenen Zwecke nutzen. Das erste Kapitel aus dem Buch ist eine Rekonstruktion modernistischer Narrative über populäre Musik, verfasst im November 1993.
Hamm geht davon aus, dass populäre Musik ein Produkt der Ära der Moderne sei, die im späten 18. Jahrhundert beginnt und mit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zu Ende geht («industrial revolution»–«late capitalism»). Die Moderne war bestimmt von Diskursen, die die Welt hierarchisch beschrieben. In der Postmoderne herrschen hingegen Diskurse vor, welche die Welt als geprägt von Fragmentierung sehen, Diskontinuität, Ephemeralität und einem Chaos, das man in Wirtschaft, Politik, sozialen Verbindungen und Künsten wahrnehmen könne. Hamm schreibt seinem Aufsatz nicht zu, eine vollständige Übersicht über die Literatur zur Populären Musik zu sein, sondern sieht ihn als ein Versuch, die modernistischen Narrative zu identifizieren und zu beschreiben, die die Diskurse über diese Musik-Gattung geprägt hätten.
Das Narrativ der musikalische Autonomie
Zu Beginn der Moderne (d.h. bei Hamm seit der Industrialisierung und dem Aufkommend es Bürgertums) habe sich in der westlichen Welt eine Unterscheidung zwischen der Musik der Elite, die als «high art», und der Musik der einfachen Leute, die als «low art» galt, entwickelt (siehe Stichwörter Wertung und High vs. Low). Die musikalische «high art» (siehe: Kunstmusik) umfasste sowohl die Klassische Musik als auch die technisch weniger anspruchsvolle Musik des bürgerlichen Salons. Die geringere oder minderwertigere Musik unterteilte sich in die Volksmusik (siehe: folkloristische Musik) und die populäre Musik. Die Kunstmusik basiert auf Notation, Professionalität und einem Publikum, das kontemplativ zuhört.
In der Moderne galt der Text als das Wesentliche an der Musik. Die musikalische Komposition war erstens wichtiger als die Produktion, denn es waren weder die perönlichen Umstände der Musikerin oder des Musikers noch die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, die einem Werk seine Bedeutung verliehen. Die musikalische Komposition galt zweitens auch als unabhängig von der Rezeption. Das Werk musste für sich selbst stehen. Aus der Perspektive der Postmoderne gilt das klassiche Repertoire als etwas, von dem überdauernde Ordnung und Herrschaft ausgehe.
Kunstmusik sei autonom. Ihre grösse sei allein ihrer inneren Verfassung abzulesen: Melodie, Harmonie, Rhythmus, Form und Arrangement («instrumentation»). Die grössten Meisterwerke der Kunstmusik seien Ausdruck eines Genies und «ideale Objekte mit unveränderbarer und ewiggültiger Bedeutung» (Carl Dalhaus). Drei konstitutive Faktoren für die Kunstmusik würden seit dem deutschen Idealismus immer wieder betont: Das Autonomieprinzip, die Genieästhetik und die Originalität.
Wer sich mit Kunstmusik auseinandergesetzt hat, hatte keine Veranlassung, sich ebenfalls mit populärer oder Volksmusik zu befassen, da diese anderen Musikgattungen als minderwertig galten. Wer sich indes mit populärer Musik auseinandersetzte, teilte die Wertung und den Gegensatz von High vs. Low. Hamm bemerkt, dass praktisch alle Fachliteratur über populäre Musik, die bis in die 1970er Jahre geschrieben worden ist, nicht von Akademiker*innen stammte, sondern von Journalist*innen und Dilettanten. Deren Schreibe ignorierte die vorherrschende Wertung oder schrieb der Populären Musik einen eigenen Wert zu. Worin lag dieser Wert, wenn nicht in der Musik selbst, ihrer Autonomie, Genialität und Originalität? Sigmund Spaeth, der Autor der ersten buchlangen Studie über populäre Musik, behandelte seinen Gegenstand als «äusserst aufschlussreicher Index des amerikanischen Lebens». Diese Musik fasse die Ethik, die Gewohnheiten, den Slang und den intimen Charakter jeder Generation zusammen. Auch die meisten der auf Spaeth folgenden Abhandlungen zur populären Musik teilten diese Auffassung der musikalischen Minderwertigkeit dieser Musik, schrieben ihr aber die Fähigkeit zu, das Leben des (amerikanischen) Volkes zu widerspiegeln. Populäre Musik war damit ein Gegenstand der [Alltags- und] Sozialgeschichte. Hamm schliesst damit, dass wer über Populäre Musik schreibe und nichts über die Musik selbst zu sagen habe, diesem Narrativ der musikalische Autonomie aufsässe.
Das Narrativ der Massenkultur
Die Moderne sei geprägt von Kommunikationssystemen (siehe Schlagwörter: Medientechnologie und Massenmedien), die es ermöglichen, kulturelle Produkte weiträumig zu verbreiten. Da diese Systeme wirtschaftlich motiviert waren [da spricht Hamm wohl von den USA, denn in Europa war dies nicht der Fall] und die Massen den Grossteil der Bevölkerung ausmachen, hat es die Kommunikationsindustrie aus wirtschaftlicher Sicht für notwendig erachtet, Produkten Vorrang einzuräumen, die auf das geringere künstlerische und moralische Niveau der unteren Klassen ausgerichtet sind. Dabei sinke das allgemeine kulturelle Niveau auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und kultivierte künstlerische und moralische Standards würden dadurch in Gefahr geraten.
Die von protestantische Eliten geprägte amerikanische Identität sei durch die hohe Immigration von Südeuropäer*innen und durch die Arbeiterklasse, die Forderungen stellten, um die Jahrhundertwende unter Druck geraten (Hamm referiert hier das Buch von MacDonald Smith Moore: Yankee Blues: Musical Culture and American Identity. Bloomington, 1985). Ein weiterer Faktor, der die Eliten unter Druck setzte, waren die Massenmedien: Die Elite hatte sich vor deren Einführung nicht um die «minderwertigen» Kulturprodukte der unteren Klassen kümmern müssen, solange diese auf ihre eigenen Kulturräume beschränkt waren. Mit der Entwicklung der neuen Massenmedien indes – Radio, Phonograph, Film – verliessen diese Inhalte ihre bisherige Domäne und wurden der gesamten Bevölkerung zugänglich gemacht.
Es wurde argumentiert, dass Massenkultur nichts Gutes ist und sein kann. [Das lag an einem Begriff der Masse, der ideologisch negativ gefärbt war. Die Massen waren die demonstrierenden Arbeiter oder Horden von Immigranten, die die herrschende Religion nicht teilten.] Die Masse galt damals als unorganisierter revolutionärer Menschenhaufen, in dem die Einzelnen ihre humane Identität und Qualität verloren. Eine Massengesellschaft war wie eine Menschenmenge, deren Standards nicht höher sein konnte als der kleinste gemeinsame Nenner. Die Massen würden von den brutalsten und primitivsten Individuen angeführt und somit kämen aus den Massen keine anderen, besseren Eigenschaften hervor.
Ein weiterer Faktor neben der Masse war die Kommerzialität. In der Massengesellschaft würde das Leben auf eine ununterbrochene, kommerziell vorgefertigte Masturbationsphantasie reduziert (Hamm zitiert hier den Kulturkritiker Allan Bloom).
Das erste Narrativ der Authentizität
Das (erste) Narrativ der Authentizität lautet: Ein ursprünglich genuiner bzw. authentischer Ausdruck einer Kultur wird durch die Dissemination über Massenmedien zu einem Witz. Hamm demonstriert anhand der Diskurse über Ragtime und Jazz, wie dieses Argument vorgetragen wurde. Oft verbindet sich die Argumentationslinie mit einer massiven Portion Antisemitismus (da viele Executives der Musik- und Unterhaltungsindustrie jüdisch waren). Zudem verbindet sich das Argument mit Rassismen aller Art: Jazz sei eine Kunst der Afroamerikaner*innen und würde durch weisse Musiker verpopt. Oder es gäbe den [negativ oder umgekehrt rassistischen] Jazzdiskurs, der weisse Musiker weitgehend oder ganz ignorierte (die Geschichtsbücher von Martin Williams oder Gunter Schuller). Hamm verdeutlicht, dass es ihm nicht darum gehe, die Rolle der Afroamerikaner*innen bei der Entstehung und der Entwicklung von Jazz zu negieren, auch nicht, die Rolle der weissen Musiker aufzublasen, sondern lediglich die Annahme als ideologisch auszuweisen, dass ein gewisses afroamerikanisches Repertoire authentischer sei als ein anderes, weisses oder weissgewaschenes.
Die negative Kraft des Kommerzes bringt Marshall Sterns in seiner «Story of Jazz» wie folgt auf den Punkt: «Tin Pan Alley und die Produktion von Hits sind ein grosses Geschäft, in das viel Geld investiert wird. Die Anleger wollen natürlich eine gute und vor allem konstante Rendite ihrer Investitionen. Also finden sie heraus, was sich verkaufen lässt, reduzieren es auf die einfachste Formel und stellen es wie Blechdosen am Fliessband her. Wenn man den Durchschnittsmenschen mit allen Arten populärer Musik vertraut macht, kann man mit Sicherheit sagen, dass er früher oder später die überragende Vitalität und Ehrlichkeit («honesty») des Jazz erkennen wird.»
Sterns Argument wurde nicht nur im Zusammenhang mit der Geschichte des Jazz dargelegt, sondern im Rahmen von allen ursprünglich folkloristischen Musikstilen, zumal von Folk. Die Vorstellung ist, dass eine neue Musik in einem kleinen kulturellen Raum entsteht, der isoliert ist, in dem eine überschaubar kleine Zahl von genialen Akteur*innen eine genuine neue Musik erfinden, die, sobald sie kommerziell verwertet wird, notwendig kontaminiert wird. [Man erinnere sich an die Diskussionen in Indiezirkeln der 1980er Jahren, die von Ausverkauf schwätzten, wenn eine Indieband plötzlich ein grösseres Publikum anvisierte oder das Indie- für ein Mainstreamlabel wechselte.]
Das Narrativ der klassischen populären Musik
Dieses lautet: Populäre Musik kann – genau wie Kunstmusik – Meisterwerke hervorbringen. Ihre Identifizierung, die Erläuterung der Unterschiede zwischen ihnen und minderwertigen Produkten sowie deren Erhaltung läge in der Verantwortung des Kritikers und Wissenschaftlers. Da notierte Kunstmusik überdauernd ist [eine Folge von Notation und dem Ideal der Werktreue] und oral tradierte populäre und folkloristische Musik ephemeral, erfährt letztere von Aufführung zu Aufführung und im Lauf der Zeit Variation und Transformationen. Da populäre Musik gedruckt und seit den 1890er Jahren auf Schallplatte aufgezeichnet wird, gilt das für sie nur beschränkt bzw. nicht mehr. Für Werke, die Stabilität in der Zeit erreicht haben, etablierte sich die Sprechweise einer «klassischen Komposition» oder «Aufnahme» (siehe Stichwort: Klassische Musik). Dem Ragtime sei das widerfahren und dem Jazz. Im Ragtime waren es einzelne Werke, im Jazz ein ganzer Kanon von Werken. Sodann habe sich die Vorstellung verbreitet, dass innerhalb eines bestimmten populären Genres wie dem Jazz, den Broadway-Musicals, den populäre Balladen bis hin zur Country-and-Western-Musik ein Kanon künstlerisch anspruchsvoller und damit «klassischer» Stücke herausgebildet hat. Gewisse Autoren sind dann so weit gegangen, dass sie ein ganzes Genre mit dem Prädikat «klassisch» ausgezeichnet hätten. Freilich wurde dieses Argument auch als Marketingkniff vorgetragen, wenn Labelbetreiber wie John Hammond oder Manager es benutzten, um ihren populären Produkten eine andere Aura zu geben. [Eine solche Adelung bestimmter Werke oder Musikgenres wurde z.B. von Diedrich Diederichsen als Re-Entry der Unterscheidung High vs. Low in die Sphäre von «Low» bezeichnet und als Popmusik thematisiert.]
Das Narrativ der Jugendkultur
Die wirtschaftliche Prosperität des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg erzeugte überschüssiges Bargeld für den Kauf von Tonträgern und Konzerttickets sowie Freizeit, in der man unterhalten werden wollte. Insbesondere machten junge Menschen rege von Unterhaltungsangeboten Gebrauch. Dem entsprechend widmete die Unterhaltungsindustrie der Jugend, die als Teenager zu einem Konsumsegment zusammengefasst wurde, grosse Aufmerksamkeit. Neue Technologien haben dafür gesorgt, dass aufgenommene Musik auch für Teenager und jüngere Menschen finanziell erschwinglich wurde und die Musikindustrie hat darauf mit einer massiven Produktion von Musik reagiert, die sich an dieses kaufkräftige Publikum richtete. Nun war es in dieser Zeit, in der die Populäre Musik zum ersten Mal wissenschaftlich untersucht wurde, und zwar im Feld der Soziologie als Erforschung des Verhaltens der Jugend. Simon Frith, ein früher Exponent, machte deutlich, dass Popmusik und Jugend zusammengehöre und dass die Soziologie der Rockmusik nicht von der Jugendsoziologie zu trennen sei.
Diese narrative Strategie führte anfangs in vielen Fällen direkt in den Diskurs über Jugendkriminalität. Rock 'n' Roll wurde mit der «juvenile delinquency» verknüpft. Mit der Entstehung der Rock-Musik am Ende der 1960er Jahre veränderte sich dieser Diskurs zur Repräsentation der Jugend als Heilmittel für eine kranke Gesellschaft. Dieser Hippie-Diskurs verkaufte Jugendkultur und Rockmusik als eine Kulturrevolution, die sich verwirklichen wird, wenn die Jugend und die jungen Leute sich von den Fesseln befreien, die ihnen die Gesellschaft auferlegte, und damit das falsche Bewusstsein abschütteln würden. Charakteristisch für diese Jugendsoziologie war, dass die Kategorie der «Jugend» (siehe Stichwort: Jugendkultur) durch alle Klassen, Hautfarben und Kulturen hindurch verlief.
In Grossbritannien blieb auch zur Zeit der Entstehung der Rock-Musik das Thema der sozialen Klasse virulent. Deshalb entstanden in Birmingham die cultural studies mit ihrem Narrativ von der Arbeiterjugend («working-class youth»), die ein Opfer des Kapitalismus sei. Das führte zur Verklärung von Subkulturen, die Elemente der Mainstreamkultur aproppriierten, und so Zellen der Opposition bildeten. Beispiele waren Teds, Skinheads oder Mods. Dieser Diskurs härtte aber übersehen, dass Jugend und Klassenkampf in anderen Kulturen als der britischen von geringerer Relevanz waren, z.B. bei Afroamerikaner*innen oder Südstaatler*innen.
Das zweite Narrativ der Authentizität
Auch wenn eine Massengesellschaft kulturelle Produkte herstellt und disseminiert, können diese nie und nimmer authentisch sein. Authentizität sei stets auf einen lokalen kulturellen Raum beschränkt. Nur Folklore könne im Rahmen von «low» authentisch sein, nie aber Populärkultur . Kapitalistische Kulturprodukte fördern in Wirklichkeit die Ideologie der herrschenden Klassen und verstärken die Entfremdung der Arbeiterklasse, selbst wenn sie vorgeben, die Anliegen der Massen anzusprechen. Dieses Narrrativ kann man als neo-marxistischen Diskurs bezeichnen.
Zum wissenschaftlichen Gegenstandsfeld ist populäre Musik erst 1981 mit der Gründung der IASPM und ihrer ersten Konferenz, der «First International Conference on Popular Music Research», in Amsterdam geworden. Damals kam auch der erste Jahrgang der wissenschaftlichen Zeitschrift dieses Gremiums heraus: «Popular Music». Auch die ersten Schriften und Diskussionen der IASPM seien vom Neomarxismus geprägt gewesen. Peter Wickes Beitrag «Rock Music as a Phenomenon of Progressive Mass Culture» schloss mit den Sätzen: «Hier haben wir ein gemeinsames Ziel: die Emanzipation aller Menschen und der Massen hin zu einer gesellschaftlichen Praxis, die eine Alternative zu der des Kapitalismus darstellt.» Der Beitrag erntete grossen Applaus.
Danach verlagerte sich der Schwerpunkt der Fachliteratur der 1980er Jahre in Richtung Produktion und Vermittlung. Beide Themen waren Bühnen, die für ökonomische Analysen empfänglicher waren, und zwangsläufig mündete ein Grossteil der daraus resultierenden Literatur in eine Kritik des Kapitalismus bzw. der kapitalistischen Popmusik selbst.
Die neomarxistische Perspektive und ihr Narrativ behauptete, dass die kapitalistische Produktion den «authentischen Ausdruck» bestimmter Gruppen negiere und dass nicht ethnische Zugehörigkeit, sondern soziale Klasse diese Gruppen definieren würden. Massenproduzierte, kommerzielle Produkte würden dem Proletariat nur aufgezwungen [würden falsches Bewusstsein erzeugen] und könnten niemals als Ausdruck des [authentischen] Bewusstseins dieser Klasse erscheinen. Jede Forderung der Jugend nach grösserer Freiheit oder authentischem Ausdruck würden notwendig in etablierte Stereotypen der Rebellion kanalisiert und so in den Rahmen der vorherrschenden Musikideologie artikuliert werden (Richard Middleton).
Charles Hamm setzt dem Narrativ die Überlegung entgegen, dass die intensivsten und folgenschwersten Konflikte der letzten Jahre zwischen den Zentralregierungen grosser Nationalstaaten und sich selbst definierenden Gruppen innerhalb dieser Staaten statfanden. Die Staaten in Afrika, Asien, Amerika und Europa hatten verschiedenste Regierungen. Ihnen allen ging es um die Aufrechterhaltung von sozialer Kontrolle und Ordnung, die sie von sich selbst definierenden ethnischen, nationalen, regionalen oder themtisch inspirierten Gruppen im ihrem Inneren bedroht sahen. Diese Kämpfe häten das politische und kulturelle Gesicht der Welt radikal verändert und sie hätten wenig oder gar nichts mit Klassenkonflikten zu tun. Oft seien diese Gruppen von Autoren missverstanden worden, die über die Unfähigkeit der Arbeiterklasse besorgt waren, im System der modernen Massenmedien einen «authentischen» Ausdruck ihrer Identität zu finden. [D.h. der eigentliche soziale Kampf sei der von Minderheiten gegen hegemoniale Systeme, nicht ein Klassenkampf!] Der Neomarxismus selbst sei eine modernistische Meta-Erzählung, die als Reaktion auf die Bedingungen der Moderne formuliert wurde, und wie andere modernistische Meta-Erzählungen könne nicht erwartet werden, dass diese grossen Erzählungen in der postmodernen Welt noch weiter Sinn machten.
Die neuen postmodernen Stimmen
Es gab einzelne Autoren, die populäre Musik von einem anderen Ausgangspunkt untersuchten. Dieser Punkt konnte sein, dass populäre Musik ein eigenes Leben, eine eigene Legitimität oder eine eigene Ideologie habe oder dass die Massenmedien in der modernen Kultur eher eine konstruktive als eine destruktive Rolle gespielt hätten. Schon Isaac Goldberg verzichtete auf die High vs. Low Unterscheidung und sah den Unterschied zwischen der Kunst- und der populären Musik als einen graduellen. D.h. er verzichtete auf die Gattungs-Differenz. Auch hat Goldberg bemerkt, dass Radio [und folglich auch andere Medien wie Tonträger] gewisse Repertoires oder Corpora am Leben erhalten haben und folglich nicht apriori zerstörerisch wirkten.
Charlie Gillett ging in The Sound Of The City davon aus, dass Autor*innen und Publika sehr wohl bestimmen können, was der Inhalt ihrer Songs und Botschaften seien, auch wenn diese Inhalte massenmedial verbreitet werden. Er untersucht Prozesse der Produktion und Promotion ohne zu unterstellen, dass diese vom Kapitalismus dominiert seien. Für den Rock 'n' Roll beschreibt er fünf musikalische Stile, ohne die Musik zu bewerten.
Die Literatur über Country & Western Musik kommt interessanterweise ganz ohne die modernen Ideologien und Narrative aus. Massenmedien spielten keine destruktive Rolle in dieser Musikart, sondern verhalfen ihr zu grösserer Anerkennung. Bill Malone wird zitiert: «Country music is not merely a facet of southern culture, but is also southern culture's chief industry.» [Das ist vermutlich nicht ohne Stolz auf diese Kultur und Musik geschrieben.] Die meisten Autor*innen von Büchern über Country & Western kamen aus dem kulturellen Umfeld der Musik, wohingegen die meisten Soziolog*innen, die über Populärkultur schrieben, aus der Hochkultur kamen und von aussen auf ihren Gegenstand schauten.
Eine Ausnahme war Wilfrid Mellers, der klassisch trainiert war, aber Bücher über die Beatles und Bob Dylan schrieb. Für ihn war das Ziel der Musikanalyse die Beschreibung der Komposition und das Identifizieren derjenigen Details, die diese Komposition zum funktionieren im Sinne der Autorintention bringen. Ebenso will Mellers Musik durch stilistische Analysen erklären, die er historisiert.
Modernistische Narrative in der Postmoderne
Die modernistischen Narrative seien auch in der Postmoderne nicht tot. Es sei nie die kommerzielle Musik von Elton John, Creedence Clearwater Revival, Barbra Streisand oder Stevie Wonder, die von wissenschaftlichen Arbeiten untersucht werde. Philip Tagg habe einmal bemerkt, dass populäre Musik durch die Ignoranz der Akademie definiert werden könne. Populär wäre dann jede Musik, die von Akademiker*innen an den Konservatorien und in den Universitäten nicht gekannt, nicht gemocht und nicht behandelt wird.
Charles Hamm diskutiert dann noch weitere Werke von Autoren aus den 1980er Jahren, die Auswege aus den modernen Vorurteilen skizzieren: Andrew Ross, Sara Cohen, Leslie Gay oder Venise Berry.
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UNCUT: Uncut_2024_08
Fotos von Bob Dylan des Fotografen Edward Grazda am Newport Folk Festival 1964 (p. 10 f.), Artikel über Lou Barlow, der in Dinosaur Jr. oder Sebadoh gespielt hat. My Life in Music mit Jeff Ament von Pearl Jam.
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Glamour
«Glamour» bezeichnet eine von Exklusivität umgebene Schönheit und Eleganz. Glam(our) gehört in den Kontext massenmedial (Film, Presse, Fernsehen, Popmusik) verbreiteter Bilder von schönen, selbstbewussten Menschen, die ihre Person mit einer Aura des Exklusiven und Besondern versehen und selbstbewusst ausdrücken. Klassischer Glamour entstand im Zusammenhang mit Hollywood-Filmstars wie Bette Davis, Greta Garbo, Elizabeth Taylor, Marilyn Monroe oder Audrey Hepburn. Dieser Glamour gilt als zeitlos und elegant. Davon heben sich zeitgenössischere Spielarten der Glamours ab, die ironisch sind. Glampunk und Campness untergraben die Ernsthaftigkeit und die Machtstrukturen des traditionellen Glamours. Sie bieten einen Raum für Spiel, Selbstdarstellung und die Befreiung von gesellschaftlichen Normen. Popacts wie die Sex Pistols oder Nina Hagen provozierten mit ihrem Auftreten und ihrer Musik eine breite Öffentlichkeit, aber machten auf beeidruckende Weise klar, dass die Mechanismen des Glams nicht exklusiv zu sein brauchen. Ein Popstar wie Lady Gaga verkörperte am Anfang Ihrer Karriere eine campe Extravaganz, die den klassichen Glamour durch Übertreibung untergräbt und für genderpolitische Zwecke appropriiert.
Klassicher Glamour
Ursprünglich bezog sich Glamour auf einen Zauber, der Menschen oder Dinge attraktiver erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit waren. Dieser Aspekt der Illusion und des Verzauberns klingt auch heute noch in der Verwendung des Begriffs mit. Dieser Glamour wird oft mit Schönheit, Eleganz und einem Hauch von Luxus assoziiert. Glamouröse Menschen, Orte oder Dinge erscheinen makellos, anmutig und stilvoll. Für andere Menschen wirken sie unerreichbar. Es geht um das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, Zugang zu einer Welt zu haben, die den meisten verwehrt bleibt. Der klassiche Glamour braucht rote Teppiche (Filmpremieren und Preisverleihungen), aufwändige Garderoben und Styling. Die Medien müssen präsent sein, die Blitze der Fotografen. Die Bilder müssen verbreitet werden, in den News, in Hochglanzmagazinen usw.
Glampunk: Glamour des Elends
Die Anfänge von Punk in den mittleren 1970er Jahren brachten eine neue Facette von Glamour ins Spiel, die sich vom klassischen Verständnis subversiv abhob. Punk, mit seinen Wurzeln in Rebellion und Antikapitalismus, pervertiert den klassischen Glamour. Er nimmt die Ästhetik der Ausgrenzung, der Armut und der Drogen und verwandelte sie in etwas ganz Neues, Schockierendes und Provokatives. Mit einfachen Mitteln wie Gender-Transgressionen, Fetisch- sowie bricollagierten Klamotten stellte Glampunk die etablierten Normen von Schönheit und Stil in Frage und kreierte aus Rissen, Sicherheitsnadeln, grellen Farben oder Irokesenschnitten eine eigene «Ästhetik des Hässlichen». Der wesentliche Zug von Glampunk war die improvisierte Do-It-Yourself-Ästhetik. Kleidung wird zerrissen, bemalt und mit Symbolen versehen. Damit wird die Exklusivität des traditionellen Glamours untergraben. Im Gegensatz zum klassischen Glamour, der oft auf Illusion und Perfektion basiert, geht es beim Punk um Gesten einer rauhen und ungeschliffenen Authentizität. Das Elend (Armut, Abhängigkeit von Drogen oder Hoffnungslosigkeit) wird nicht versteckt, sondern offen zur Schau gestellt. Glampunk ist ein Glamour, der mit dem Nihilismus flirtet und die Vergänglichkeit zelebriert.
Glamour und Campness
Die campe Ästhetik hat eine weitere Art des Glamours hervorgebracht: Ein ironisches Spiel mit Künstlichkeit und Übertreibung. Diese Art des Glamurösen überhöht den klassischen Glamour ins Absurde, bis er kippt und etwas Neues und überspitztes entsteht. Er nimmt Klischees und Stereotype des Glamours auf und überzeichnet sie bewusst, bis sie grotesk wirken. Camp liebt das Theatralische, das Künstliche und Übertriebene. Perücken, Make-up, Pailletten, Federn – alles wird eingesetzt, um eine überbordende, theatralische Wirkung zu erzielen.
Die Glam-Genres im Musikzimmer
– Sparte: Glamrock
– Stil: Artglam
– Stil: Glampunk
– Stil: Popglam
– Stil: Glammetal
– Stil: Glamrock ab den 1980er Jahren
– Stil: Glampunk ab den 1980er Jahren
Querverweise
– Paste: The 30 Greatest Glam Rock Albums of All Time (17. Oktober 2023)
– Antiglam
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Loss Leaders Serie
Die «Loss Leaders Serie» war eine Reihe von Rock Katalog Samplern, also Budget Label-Compilationen, von Warner Bros. (und Reprise). Die Sampler erschienen ab 1969 bis 1980.
Der vor Aufrichtigkeit strotzende, aber auch etwas kokette Titel leitet sich von «loss leader» ab (deutsch «Verlustvorsprung»), einem Marketing-Begriff. «Loss leader» ist eine Preisstrategie, die ein Produkt mit kalkuliertem Verlust anbietet, d.i. zu einem Preis, der unter der Mindestgewinnspanne liegt, um den Verkauf anderer Produkte anzuregen, die dann profitabel verkauft werden. Das Unternehmen versucht, eine aktuelle Analyse seiner Konten sowohl für den Verlustvorsprung als auch für die damit verbundenen Posten zu führen, damit es überwachen kann, wie gut das System abschneidet, um einen Gesamtnettoverlust zu vermeiden.
Rockmusik war am Anfang der Serie noch Neuland. Wie man diese Musik, die nicht oder kaum am Radio gespielt wurde, verwerten sollte, musste sich erst herausstellen. Rock Katalog Sampler halfen, Gruppen bekannt zu machen. Später wurde diese Strategie vom Rockradio übernommen. Interessanterweise hat Warner Bros. seine Serie trotz Rockradio bis 1980 weitergeführt. Offenbar hat sie sich für das Label bewährt und die Plattenkäufer*innen haben die Serie geschätzt und zugegriffen.
Die Reihe wurde mit aufwändig gestalteten Gatefold Cover veröffentlicht. Ein witziger Titel, grossartige Illustrationen, deren Wirkung sich entfaltet, wenn das Album aufgeklappt wird. Jeder Release kam mit biografischen Annotationen zu den verschiedenen Acts. Es ging darum, die Käuferschaft dazu zu verführen, die Original-Alben zu kaufen.
Quellen
– Discogs: Label- bzw. Reihen-Diskografie der Loss Leaders Serie – ein Release aus der Reihe ist weder bei Discogs noch im Musikzimmer erfasst: Gold Medal (1980)
– TrackingAngle: aiA Look at Warner Brothers Records' late '60's-mid '70's Groundbreaking "Loss Leader" Albums (28. Dezember 2023)
– Steve Hoffman Music Forums: oss Leaders from Warner Brothers/Reprise: An album by album thread
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Medientechnologie 2 - Telegrafie und Telefonie
Telegrafie und Telefonie sind beides Technologien zur Übermittlung von Nachrichten über Distanz. Die Telegrafie überträgt in Morsecode codierte Texte (bennant nach Samuel Morse) als elektrische Impulse. Dies ist eine Form der digitalen Codierung, da die Information in diskreten Einheiten (Strom oder kein Strom, ein oder aus) vorliegt. Die Telegrafie wurde oft mit einer Metapher aus der Musik umschrieben: «the singing wire». Kein Wunder, dass Songs über die Telegrafie diesen Ausdruck aufnehmen, zum Beispiel Telegraph Road:
And the birds up on the wires and the telegraph poles They can always fly away from this rain and this cold You can hear them singing out their telegraph code All the way down the telegraph roadoder Wichita Lineman
I hear you singin' in the wire, I can hear you through the whine And the Wichita lineman is still on the lineDie frühe Telefonie dagegen überträgt gesprochene Sprache analog. Das Telefon wandelt Schallwellen in elektrische Signale um, deren Form den Schallwellen entspricht. Moderne, digitale Telefonie hingegen übersetzt die Sprache in digitale Datenpakete. Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Codierung liegt in der Art der Informationsdarstellung: analog als kontinuierliche Welle, digital als Folge diskreter Werte.
Semaphorische Telegrafie

Das napoleonische Semaphore-Netzwerk war ein optisches Telegrafiesystem, das im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Frankreich verwendet wurde. Es ermöglichte die schnelle Übermittlung von Nachrichten über grosse Entfernungen, Jahre bevor die elektrische Telegrafie erfunden wurde. Das System bestand aus einer Reihe von Türmen, die in Sichtweite zueinander auf Anhöhen errichtet wurden. Auf jedem Turm befand sich ein Signalmast mit beweglichen Armen (Semaphore), die verschiedene Positionen einnehmen konnten. Jede dieser Positionen entsprach einem bestimmten Code, der Buchstaben, Zahlen oder ganze Wörter repräsentierte. Ein geschulter Bediener auf einem Turm beobachtete die Signale des benachbarten Turms mit einem Teleskop und stellte die Arme seines eigenen Masts entsprechend ein, um die Nachricht weiterzuleiten. Auf diese Weise konnte eine Nachricht von Turm zu Turm übermittelt werden, bis sie ihr Ziel erreichte.
Das napoleonische Semaphore-Netzwerk war eines der größten und fortschrittlichsten seiner Zeit. Es erstreckte sich über mehr als 5000 Kilometer und umfasste über 500 Stationen. Die Hauptlinien verliefen von Paris nach Brest, Strassburg, Toulon und Mailand. Nachrichten konnten mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Zeichen pro Minute übertragen werden. Das bedeutete, dass eine Nachricht von Paris nach Lille (etwa 200 km) in weniger als einer Stunde ankommen konnte. Das war wesentlich schneller als die Post mit Reitern oder Kutschen. Die Verlässlichkeit des Systems war ein Nachteil: Bei schlechtem Wetter wie Nebel, Regen oder Schnee war die Sicht eingeschränkt oder die Übermittlung vollends unmöglich. Für die beschränkte Anzahl von Nachrichten, die übertragen werden konnten, waren Bau und Unterhalt des Netzwerks teuer. Dennoch stellte das semaphorische System einen wichtigen Fortschritt in der Kommunikationstechnologie dar und spielte eine bedeutende Rolle in der militärischen und politischen Geschichte Frankreichs, den Napoleonischen Kriegen. Das Netz wurde bis in die 1850er Jahre genutzt, als es von der elektrischen Telegrafie abgelöst wurde.
Wreckless Eric: Semaphore Signals. Stiff BUY 16, 1977
Entwicklung der Telegrafie (Timeline)
– Zwischen 1820 und 1830 wurde die Entwicklung der elektrischen Telegrafie durch Personen wie André-Marie Ampère (F), Carl August von Steinheil (D), Pavel Schilling (RUS), Samuel Morse (USA), Edward Davy, William F. Cooke und Charles Wheatstone (GB) entscheidend vorangetrieben.
– 1838 die erste kommerziell betriebene britische Linie von Erfinder Cooke und Wissenschaftler Wheatstone verband die Städte London und West Drayton (21 km) entlang der «Great Western Railway». Diese Telegrafenlinie wurde hauptsächlich für die Eisenbahnsignalisierung eingesetzt, um die Sicherheit und Effizienz des Zugverkehrs zu verbessern. Der Erfolg dieser ersten Linie führte zu einer raschen Ausbreitung von Telegrafenlinien in ganz Grossbritannien. Cook-Wheatstone erhielten 1837 ein Patent für ihren Fünf-Nadel-Telegrafen. Dieser war ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Telegrafie, wurde aber später von einfacheren und effizienteren Systemen wie dem Morsetelegrafen abgelöst.

– 1844 erste amerikanische Linie zwischen Washington, D.C. und Baltimore, Maryland (40 Meilen, 64 km). Sie wurde mit Mitteln der US-Regierung finanziert und diente als – so sagen wir heute – Machbarkeitsstudie für Samuel Morses Erfindung. Am 24. Mai wurde die erste Nachricht übertragen: «.-- .... .- - .... .- - .... --. --- -.. .-- .-. --- ..- --. .... - ..--..», «What hath God wrought?» («Was hat Gott gewirkt/geschaffen?» – «wrought» ist das Partizip Perfekt von «work».) Die Telegrafenlinie wurde entlang der Linie der Baltimore-Ohio-Railroad gebaut. Der Versuch war ein Erfolg, der den Ausbau des Telegraphennetzes in den USA nach sich zog.
– 1861 transkontinentale Telegrafenlinie – sie erreichte die Westküste acht Jahre vor der transkontinentalen Eisenbahn.

– 1866 transatlantisches Kabel: Das transatlantische Telegrafenkabel war ein Meilenstein in der Geschichte der Kommunikation. Es ermöglichte erstmals eine nahezu sofortige Kommunikation zwischen Europa und Nordamerika. Bereits 1857 und 1858 gab es Versuche, ein Kabel zu verlegen, die aber scheiterten. Die treibende Kraft hinter dem Projekt war der amerikanische Unternehmer Cyrus Field, der viel in das Unternehmen investierte. Das Kabel wurde vom grössten Schiff der damaligen Zeit, der «Great Eastern», verlegt. Es war über 3000 Kilometer lang und bestand aus Kupferdraht, Guttapercha (eine Art Gummi) als Isolierung und Stahl zur Verstärkung. Die Verlegung war eine technische Meisterleistung, da das Kabel in grosser Tiefe und über unebenen Meeresboden verlegt werden musste. Am 27. Juli 1866 wurde die Verbindung erfolgreich hergestellt. Die erste offizielle Nachricht war ein Glückwunsch von Königin Victoria an US-Präsident Andrew Johnson. Vor der Telegrafie brauchte ein Schiff zwischen neun Tagen und mehreren Wochen. Das Kabel von 1866 war nicht das letzte. In den folgenden Jahren wurden weitere Kabel verlegt, die die Kapazität und Zuverlässigkeit der Verbindung verbesserten. Es war ein Triumph des Transatlantizismus.
Dire Straits: Telegraph Road. Vertigo 6359 109, 1982
Telegrafie in der Schweiz
In der Schweiz wurde die Telegrafie relativ spät eingeführt. Im Sonderbundskrieg wurde noch mit Sichttelegrafie experimentiert. Der Bundesrat legte dem Parlament 1851 ein Telegrafengesetz vor, das die Technologie zur Bundessache erklärte – nicht zuletzt vermutlich wegen der millitärischen Bedeutung der Sache. Das Parlament verabschiedete dieses Gesetz im selben Jahr. 1852 wurde die Eidgenössische Telegraphenwerkstätte (ETW) gegründet, um «Telegrafenapparate samt Zubehör in eigener Regie aus vorfabrizierten Einzelteilen zusammenzubauen» (HLS). 1865 wurde Bern zum Sitz der Internationalen Union der Telegraphenverwaltungen, der Vorläuferin der Internationalen Fernmeldeunion. Im selben Jahr erwarb Gustav Adolf Hasler zusammen mit Albert Escher die ETW, die damit zum Grundstein der Firma Hasler AG wurde (seit 1987 mit Autophon und Zellweger Telecommunications zur Ascom fusioniert). 1874 wurde die Telegrafie in die Verfassung aufgenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die beiden Bereiche Post und Telegrafie – zusammen mit der Telefonie – unter eine einzige Oberbehörde, die PTT, gestellt.
Unterschied USA – Schweiz
In der Schweiz war es der Bund, der für den Aufbau des Netzes zuständig war, während es in den USA Privatfirmen waren. In den USA entstand 1850 erst einmal ein Chaos: Es gab über 50 Telegrafie-Firmen, die einander konkurrenzierten, die teilweise nur aus Gründen der Spekulation existierten und die sogar Linien bauten, wo es bereits andere Linien gab (Czitrom, Media and the American Mind, p. 22). 1856 ist aus dem Wirrwarr schliesslich Western Union hervorgegangen. Entscheidend für Western Unions Aufstieg waren Patente von Morse für den Bau von langen Leitungen und für die Benutzung der nach ihm benannten Sprachcodierung mit Punkten und Strichen. Ein anderer Faktor für das entstehende Monopol waren Verträge mit den Western Railroad Companies. Das Monopol wuchs in den folgenden 40 Jahren und 1909 kam Western Union in den Besitz von AT&T, einem weiteren Monopolisten.
Die USA bauten ihr Netz ein paar Jahre vor der Schweiz. Vermutlich wurde die Notwendigkeit der Telegrafie im grossen, teils unerschlossenen Land als dringender empfunden als in der kleinen Schweiz. Der Bottom-up-Prozess sorgte für grosse Turbulenzen und die privatrechtliche Organisation des Aufbaus und Betriebs des Telegrafennetzes war nicht immer effizient. Es trieb Spekulantenn in den Bankrott und machte erfolgreiche Geschäftsmänner unnötig reich.
Entwicklung der Telefonie
Die Idee eines sprechenden Telegraphen («speaking telegraph») hatten Innocenzo Manzetti (1844) und der deutsche Physiklehrer Johann Philipp Reis. Das Reis-Telefon, das er 1861 in Frankfurt a.M. demonstrierte, konnte zwar Töne, aber keine verständliche Sprache übertragen. Es war eher eine musikalische Erfindung als ein Kommunikationswerkzeug.
Der nächte Schritt in der Erfindung und Entwicklung des Telefons machte Alexander Graham Bell mit einem Gerät, das er «harmonic telegraph» nannte und das er 1876 zum Patent anmeldete. Am 7. März 1876 erhielt er das US-Patent Nr. 174,465 für ein «Gerät zur Übertragung von Sprache ... durch Telegraphen». Am selben Tag reichte auch Elisha Gray ein ähnliches Patent ein. Weil Bell danach das erste funktionierende Telefon entwickelte, gilt er als der Erfinder.
Eine weitere für das Telefon entscheidende Erfindung war das Kohlemikrofon von Thomas A. Edison, das er sich 1877 patentieren liess.
Einige Meilensteine in der Entwicklung der Telefonie in den USA und Europa:
– Einrichtung der ersten Telefonverbindungen (1876/77) sowohl in den USA als auch kurz darauf in Europa.
– Die erste Telefonzentrale der Welt wurde 1878 in New Haven, Connecticut, eröffnet. Sie ermöglichte es, mehrere Teilnehmer miteinander zu verbinden.
– Automatisierung der Zentrale durch Almon Strowger 1889
– Die erste transatlantische Telefonverbindung wurde 1927 zwischen New York und London hergestellt.
– Die Digitalisierung der Telefonie begann in den 1960er Jahren und führte zu einer deutlichen Verbesserung der Sprachqualität und zu neuen Funktionen wie Anrufbeantworter und Anruferkennung.
– Die Entwicklung des Mobilfunks in den 1970er Jahren revolutionierte die Telekommunikation und machte das Telefonieren unabhängig von festen Leitungen.
Bell gründete 1877 die «Bell Telephone Company», die schnell zum dominierenden Unternehmen in der US-amerikanischen Telefonindustrie wurde. 1885 wurde die «Bell Telephone Company» in «American Telephone & Telegraph Company» (AT&T) umbenannt. AT&T verfolgte eine aggressive Expansionsstrategie und kaufte viele kleinere Telefongesellschaften auf bis die Firma eine Monopolstellung im US-amerikanischen Telefonmarkt erlangte. Das Unternehmen kontrollierte nicht nur die Telefonleitungen, sondern auch die Herstellung von Telefonapparaten. Das Monopol wurde erst 1984 aufgrund von kartellrechtlichen Bedenken zerschlagen. AT&T wurde damals in sieben regionale Telefongesellschaften («Baby Bells») aufgeteilt. Dies führte zu mehr Wettbewerb im Telekommunikationsmarkt. Wie stets nach solchen deregulierenden staatlichen Eingriffen (vergleiche Standard Oil Co. of New Jersey v. United States) fusionierten einige der «Baby Bells» wieder miteinander, so dass neue Unternehmen wie «MCI» oder «Sprint» entstanden. 2005 übernahm «SBC Communications», eine der «Baby Bells», die AT&T und trägt seither den Namen des ehemaligen Mutterkonzerns. 2006 übernahmen die «Verizon Communications», eine weitere «Baby Bell», die «MCI» und «AT&T» die «BellSouth». So war die Geschichte der Telefonie in den USA geprägt von technologischen Innovationen, wirtschaftlichen Machtkämpfen und regulatorischen Eingriffen. Von den ersten einfachen Geräten bis hin zu den heutigen komplexen Mobilfunknetzen hat die Telefonie die Art und Weise, wie wir kommunizieren, grundlegend verändert.
Blondie: Hanging On The Telephone. Chrysalis CHR 1192, 1978.
Die Bedeutung von Telegrafie und Telefonie
– Mit den beiden Medientechnologien wurden zum ersten Mal Transport und Kommunikation differenziert.
– Im Journalismus wurden die «News» wichtiger als der Kommentar.
– Da die Übertragungszeit gegen 0 geht «vernichtet» die Telegrafie den Zeitfaktor der Kommunikation. Sie homogenisiert aber auch den Raum, indem sie Gleichzeitigkeiten über grosse Räume schafft.
Querverweise
– AT&T
Links, Quellen
– Wikipedia (en): Artikel: Semaphore
– Morse Code Translator
– Regine Buschauer: Telegraf (Historisches Lexikon der Schweiz, 17.12.2013)
– Margreth Schädeli: Die schweizerische Post im Ersten Weltkrieg unter spezieller Berücksichtigung der Verhältnisse in der Stadt Basel (Berner Studien zur Geschichte. Reihe 5: Ära der Weltkriege, Band 3, Universität Bern, 2021)
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James W. Carey: Communication as Culture: Essays on Media and Society
«Communication as Culture: Essays on Media and Society» ist eine Sammlung von Essays, die das Verhältnis von Kommunikation, Medien und Kultur behandeln. James W. Carey (1934-2006) war ein amerikanischer Medien- und Kommunikationstheoretiker. Seine Schriften setzten sich von der gängigen Auffassung ab, dass Kommunikation eine Übertragung von Sinn/Bedeutung von einem «Sender» auf einen «Empfänger» sei. Stattdessen verstand er sie als kulturelle bzw. soziale Praxis. Carey sprach von einer «ritual view of communication» und sah in der Kommunikation eine Art Ritual, das gemeinsame Bedeutungen schafft und die soziale Ordnung aufrecht erhält. Sein Ansatz steht im Einklang mit konstruktivistischen Ideen oder dem Symbolischen interaktionismus, die beide betonen, dass Menschen durch Interaktion und Kommunikation (Erwin Goffman würde sagen mittels «Alltagsritualen») ihre Welt konstruieren.
Kommunikation findet im Alltag statt, aber auch wenn sich Menschen an Festen und Zeremonien zusammenfinden oder wenn sie Geschichten erzählen. Alle kommunikativen Akte oder Interaktionen festigen die Bindung der Menschen untereinander und konstituieren ein gemeinsames Weltbild bzw. gemeinsame Weltbilder. Kommunikation ist für Carey nicht bloss eine Reflexion der Kultur und des gemeinsamen Wissens, sondern formt Kultur, Wahrnehmung, Wissen und Selbstverständnis. Dabei spielen Medientechnologien eine gewichtige Rolle.
Carey verstand Kommunikationswissenschaft als Chance, unser Verständnis von verschiedenen Kulturen und anders denkenden Menschen zu erweitern, Kommunikation über Grenzen hinweg zu verbessern und die Gesellschaft inklusiver zu machen.
Kapitel: The Case of the Telegraph
Im letzten Kapitel seines Buchs untersucht Carey die Rolle der Telegraphie bei der Entstehung des industriellen Monopolkapitalismus (Stahlindustrie, Eisenbahnen, Grossbanken). Es beginnt mit der Erzählung davon, dass das vornehme Boston 1944 ans industrialisierte Amerika angeschlossen wurde. Drei Errungenschaften des 19. Jahrhunderts kamen in diesem Jahr in die Stadt: die Eisenbahn (Boston and Albany Railroad), die Dampfschiffahrt (Cunard Steamers) und die Telegrafie (die Linie zwischen Boston–Baltimore–Washington DC). Von den drei Transport- und Medientechnologien bleibe die Telegrafie das am wenigsten erforschte Feld. Das Standardwerk sei 40 Jahre alt (Robert L. Thompson: «Wiring a Continent: The History of the Telegraph Industry in the United States, 1832-1866», 1947) und behandle bloss die Gründung von Western Union, dem ersten grossen Kommunikations-Monopol der USA. Dieses Monopol wurde durch einen der grössten Rechtsstreite in den USA im 19. Jahrhundert geschaffen, den «great telegraph war» zwischen Jay Gould und William H. Vanderbilt. Gould, der Eigentümer der «Atlantic and Pacific Telegraph Company» die später mit der Western Union fusionierte, war im Besitz der Patente für die Quadruplex-Telegrafie, die er 1874 für $30.000.– (das entspricht $808'000 im Jahr 2023) von Thomas A. Edison gekauft hatte. Das Patent sicherte ein Multiplex-Verfahren in der Telegrafie. Damit konnten gleichzeitig durch ein Kabel zwei Nachrichten in jeder Richtung versandt werden. Gould nutzte den Quadruplex, um einen Preiskrieg gegen Western Union zu führen. Er verkaufte seine Aktien. Cornelius Vanderbilt war der größte Anteilseigner von Western Union und war von Jay Goulds Preiskampf am stärksten betroffen. Vanderbilt starb während der Saga, wodurch sein Sohn William die Leitung übernahm. William Vanderbilt war, ähnlich wie sein Vater, Jay Gould nicht gewachsen und gab schnell nach. Um den Preiskrieg zu stoppen, kaufte «Western Union» für 5 Millionen Dollar (das entspricht 135 Millionen Dollar im Jahr 2023) die «Atlantic Pacific» auf und erhielt damit die Rechte am Quadruplex von Jay Gould.
Carey stellt fest, dass das Forschungsvakuum im Feld der Telegrafie unglücklich sei, zum einen wegen der Tatsache, dass Western Union das erste grosse Monopol der USA, die erste elektrotechnische Wirtschaftsbranche überhaupt war. In dieser Branche war «Corporate Capitalism» auch in der Zukunft üblich (David Noble: American by Design, 1977). Zum anderen strukturiere die Telegrafie die Wahrnehmung, die Sprache und das Wissen neu. Folglich sei die Telegrafie eine Weggabelung (Carey spricht von «watershed») für die Entwicklung der Kommunikation in der US-Gesellschaft.
Einerseits wurde Telegrafie dazu verwendet, Nachrichten von A nach B zu übertragen. Durch die Nachrichtenübertragung wurden Kommunikation und Transport differenziert. Bisher musste eine Nachricht zu Fuss, zu Pferd oder per Eisenbahn vom Ausgangsort an den Zielort transportiert werden. Die technische Einrichtung der Telegrafie machte es hingegen möglich, Symbole, Zeichen, Botschaften, Nachrichten schneller als bisher und unabhängig von einem Weg zu übertragen. «The telegraph freed communication from the constraints of geography» (p. 204). Die Telegrafie diente aber auch der Fernsteuerung und der Kontrolle von Prozessen aus der Distanz. So wurden zum Beispiel Signale und Weichen der Eisenbahn von Kontrollwerken aus gestellt. In diesem Sinn war die Telegrafie ein Vehikel für die Veränderung von Ideen. Mit ihr tauchten neue Ideologien auf. Die gesellschaftliche Ideologie bestand darin, die Medientechnologien zu naturalisieren, sie in die bestehende Ordnung der Dinge einzufügen. Die Ideologie des folkloristischen Alltagsverständnisses hingegen dachte sich die neuen Technologien in theologischen Kategorien und Modellen: Leo Marx prägte dafür den Begriff «the rhetoric of the technological sublime» woraus Carey «the rhetoric of the electrical sublime» macht. Dem Telegraphen nämlich wurde die Kraft zugeschrieben, die Wildnis im Hinterland zu zähmen. Man sprach vom «noiseless tenant of the wilderness». Der philosophische Idealismus der Zeit förderte diese Art der Verklärung. Die Telegrafie war kein weltliches Faktum, sondern ein Mittel der Bekehrung – kein Wunder, denn Kommunikation hat man traditionellerweise von der Religion her verstanden [nämlich als Zugehörigkeit zur Gemeinde und als Teilhabe an der Güte Gottes oder des Erlösers. Das verwendete Wort war allerdings «communion».] Auch weniger theologisch funktionierte der Idealismus der Zeit: Die Ideologie des Mittelstands lautete: Kommunikation schafft Menschlichkeit, Aufklärung, Fortschritt. Wer nicht «online war», stand in Gefahr Barbar zu bleiben oder zu werden. (Benjamin Franklin, die Verkörperung der Max Weberschen protestantischen Ethik, war ein Mann, der sich der Erforschung der Elektrizität widmete. Er sah in ihr eine entscheidende moralische und soziale Kraft.) Die Idee des «common sense», mit der Thomas Paines die amerikanische Unabhängigkeit anheizte, erhielt eine neue Dimension.
Die Telegrafie beeinflusste die Sprache in der Öffentlichkeit über die Zeitungen und Zeitschriften, deren Zweck mehr und mehr darin bestand, Neuigkeiten an den Endpunkten des Telegrafienetzes zu verbreiten, als politische und moralische Kommentare zu schreiben. Dadurch wurde der literarische Stil von einem sachlich-naturalistischen Stil abgelöst. Es ging zunehmend um die Story, statt um den Erzähler. Als literarischer Stil schlug sich das bei Ernest Hemingway nieder. «Der Telegraph machte die Prosa schlank und schmucklos und führte zu einem Journalismus ohne den Luxus von Details und Analysen», schreibt Carey (p. 211).
Bevor es die Telegrafie gab, waren Handelsbeziehungen persönlich. Verkäufer und Käufer redeten miteinander und handelten Preise, Mengen und Qualität ihres Handels unter sich aus. Mit der Telegrafie veränderte sich das dramatisch. Nun bildete sich ein Monopolkapitalismus heraus. Zunehmend unpersönliche Handelsbeziehungen und die Homogenisierung der Märkte (Baumwolle in Memphis kostete nun gleich viel wie Baumwolle in New Orleans) waren der Effekt der blitzschnellen Nachrichtenübertragung. Die Wirkung des Telegrafen ist einfach: Er bringt alle Anbieter und Käufer zum Zweck des Handels an den virtuell gleichen Ort. Die Geographie wird irrelevant. Abgesehen von marginalen Ausnahmen hier und da beseitigt die Telegrafie Möglichkeiten zur Arbitrage. Arbitrage im Handel bedeutet, einen Vermögenswert gleichzeitig an zwei verschiedenen Märkten zu kaufen und zu verkaufen, um von einem Preisunterschied zu profitieren. Die Telegrafie verwirklicht die klassischen Annahme des perfekten und transparenten Marktes. Kanäle, Strassen und Eisenbahnlinien haben Märkte bereits vorher regionalisiert, die Telegrafie hingegen hat sie nationalisiert und sogar internationalisiert. Zudem förderte er die Spekulation oder mit anderen Worten er verschob Arbitrage zu Futures. Handel fand nun zunehmend nicht zwischen verschiendene Orten mit verschiedenen Preisen statt, sondern zwischen verschiedenen Zeiten. Ich kaufe jetzt etwas, was in der Zukunft an Wert gewonnen haben wird. Zeit war nun Geld. Und dieser Effekt wurde genutzt, um New York zum Zentrum des Aktienmarktes zu machen. Eine 30 Sekunden Verzögerung im Informationssystem soll New York zum primären Handelsplatz für Wertpapiere gemacht haben.
Es gab drei weitere Effekte der Verschiebung der Güter aus dem Raum in die Zeit: Märkte wurden dekontextualisiert. Gehandelt werden nicht Güter gegen Geld, sondern Zeit gegen Geld. Die Handelsgüter wurden auf Distanz nicht mehr beschaut, sondern es wurden Qualitätsstandards eingeführt. Man kaufte nicht Weizen, sondern Weizen einer gewissen Qualität. Es war wie bei Amazon oder ZVAB: Ein Buch ist neu, wie neu, gebraucht usw., je nach seinem Zustand.
Die ökonomische Kritik von Karl Marx am Kapitalismus habe viel mit diesen Verschiebungen und der Dekontextualisierung von Ware, Wert und Zeichen zu tun (siehe p. 221 f.). In der Kunst hat Walter Benjamin den Verlust der Aura des Werks beklagt. Auch der Komponist Igor Stravinsky hat diese Veränderungen mit dem Ausdruck auf den Punkt gebracht «the statisticalization of the mind».
Die Welt vor der Telegrafie bestand aus Regionen mit Zentren (Städten), in denen es Marktplätze gab. Zeit richtete sich an diesem Zentrum aus. Mit der Telegrafie wurden Standardzeiten eingeführt (am 18. November 1883), Zeitzonen, was besonders der Eisenbahn und ihren Fahrplänen zugute kam. Viele Menschen hielten die Standardzeit für eine Zerstörung der natürlichen Ordnung.
Quellen
– zum Kapitel Technology and Ideology: The Case of the Telegraph
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