Poesie und Musik: Henri Heines Talking Blues über die Menschliche Bedingtheit oder der dialektische Realitäts-Blues | Song-Factsheet

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Song «Henri Heines Talking Blues über die Menschliche Bedingtheit oder der dialektische Realitäts-Blues» von Poesie und Musik.

Fakten

Veröffentlichungsdaten: 1977 (Album)
Label: Image U 776-013
Songwriter Heinrich Heine & Poesie und Musik
Produktion:
Genre: Rock - Corporate-Rock - Progfolk

Annotationen

Das war eine clevere Idee, das Gedicht Zur Teleologie von Heinrich Heine mit dem Titel «Talking Blues» zu überschreiben und so zu rekontextualisieren. Ein «Talking Blues» ist ein Folksong mit vielen, schnell und rhythmisch gesprochenen Worten – nicht unähnlich einem Rap. Zu den bekanntesten «Talking Blues» gehören Songs von Woody Guthrie oder dem frühen Bob Dylan. Das Trio liefert hier eine europäische Version eines Talking Blues. Wo der amerikanische «Talking Blues» trocken, krud und bei Dylan surreal ist, ist dieser europäische Text voller Ironie, die von der unerhörten Spannung zwischen Geziertheit und Profanität («Was dem Menschen dient zum seichen, damit schafft er seinesgleichen») lebt.

Personen und Querverweise


Poesie und Musik
Heinrich Heine
Poesie und Musik

Lyrics

Zur Teleologie Beine hat uns zwei gegeben Gott der Herr, um fortzustreben. Wollte nicht, daß an der Scholle Unsre Menschheit kleben solle; Um ein Stillstandsknecht zu sein, Gnügte uns ein einzges Bein. Augen gab uns Gott ein Paar, Daß wir schauen rein und klar; Um zu glauben, was wir lesen. Wär ein Auge gnug gewesen. Gott gab uns die Augen beide. Daß wir schauen und begaffen, Wie er hübsch die Welt erschaffen Zu des Menschen Augenweide; Gott versah uns mit zwei Händen, Daß wir doppelt Gutes spenden; Nicht um doppelt zuzugreifen Und die Beute aufzuhäufen In den großen Eisentruhn, Wie gewisse Leute tun – (Ihren Namen auszusprechen. Dürfen wir uns nicht erfrechen – Hängen würden wir sie gern. Doch sie sind so große Herrn, Philanthropen, Ehrenmänner, Manche sind auch unsre Gönner, Und man macht aus deutschen Eichen Keine Galgen für die Reichen.) Gott gab uns nur eine Nase, Weil wir zwei in einem Glase Nicht hineinzubringen wüßten Und den Wein verschlappern müßten. Gott gab uns nur einen Mund, Weil zwei Mäuler ungesund. Mit dem einen Maule schon Schwätzt zuviel der Erdensohn. Wenn er doppeltmäulig wär, Fräß und log er auch noch mehr. Hat er jetzt das Maul voll Brei, Muß er schweigen unterdessen, Hätt er aber Mäuler zwei, Löge er sogar beim Fressen. Mit zwei Ohren hat versehn Uns der Herr. Vorzüglich schön Ist dabei die Symmetrie. Sind nicht ganz so lang wie die, So er unsern grauen braven Kameraden anerschaffen. Ohren gab uns Gott die beiden, Um von Mozart, Gluck und Haydn Meisterstücke anzuhören – Gäb es nur Tonkunst-Kolik Und Hämorrhoidal-Musik Wie zum Beispiel von uns dreien, Würde mich ein Ohr schon reuen. Als zur blonden Teutelinde Ich in solcher Weise sprach, Seufzte sie und sagt«: Ach! Grübeln über Gottes Gründe, Kritisieren unsern Schöpfer, Ach! das ist, als ob der Topf Klüger sein wollt als der Töpfer! Doch der Mensch fragt stets: Warum? Wenn er sieht, daß etwas dumm. Freund, ich hab dir zugehört, Und du hast mir gut erklärt, Wie zum weisesten Behuf Gott dem Menschen zwiefach schuf Augen, Ohren, Arm und Bein, Während er ihm gab nur ein Exemplar von Nas und Mund – Doch nun sage mir den Grund: Gott, der Schöpfer der Natur, Warum schuf er einfach nur Das skabröse Requisit, Das der Mann gebraucht, damit Er fortpflanze seine Rasse Und zugleich sein Wasser lasse? Teurer Freund, ein Duplikat Wäre wahrlich hier vonnöten, Um Funktionen zu vertreten, Die so wichtig für den Staat Wie fürs Individuum, Kurz fürs ganze Publikum. Also Teutelinde sprach, Und ich sagte ihr: Gemach! Unklug wie die Weiber sind, Du verstehst nicht, liebes Kind, Zwei Funktionen, die so greulich Und so schimpflich und abscheulich Miteinander kontrastieren Und die Menschheit sehr blamieren. Gottes Nützlichkeitssystem, Sein Ökonomieproblem Ist, daß wechselnd die Maschinen Jeglichem Bedürfnis dienen, Den profanen wie den heilgen, Den pikanten wie langweilgen, – Alles wird simplifiziert; Klug ist alles kombiniert: Was dem Menschen dient zum Seichen, Damit schafft er seinesgleichen. Auf demselben Dudelsack Spielt dasselbe Lumpenpack. Feine Pfote, derbe Patsche, Fiddelt auf derselben Bratsche, Was dem menschen dient zum Seichen, damit schafft er seinesgleichen!