Musikzimmer Blog Post: James W. Carey: Communication as Culture: Essays on Media and Society

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James W. Carey: Communication as Culture: Essays on Media and Society

«Communication as Culture: Essays on Media and Society» ist eine Sammlung von Essays, die das Verhältnis von Kommunikation, Medien und Kultur behandeln. James W. Carey (1934-2006) war ein amerikanischer Medien- und Kommunikationstheoretiker. Seine Schriften setzten sich von der gängigen Auffassung ab, dass Kommunikation eine Übertragung von Sinn/Bedeutung von einem «Sender» auf einen «Empfänger» sei. Stattdessen verstand er sie als kulturelle bzw. soziale Praxis. Carey sprach von einer «ritual view of communication» und sah in der Kommunikation eine Art Ritual, das gemeinsame Bedeutungen schafft und die soziale Ordnung aufrecht erhält. Sein Ansatz steht im Einklang mit konstruktivistischen Ideen oder dem Symbolischen interaktionismus, die beide betonen, dass Menschen durch Interaktion und Kommunikation (Erwin Goffman würde sagen mittels «Alltagsritualen») ihre Welt konstruieren.
Kommunikation findet im Alltag statt, aber auch wenn sich Menschen an Festen und Zeremonien zusammenfinden oder wenn sie Geschichten erzählen. Alle kommunikativen Akte oder Interaktionen festigen die Bindung der Menschen untereinander und konstituieren ein gemeinsames Weltbild bzw. gemeinsame Weltbilder. Kommunikation ist für Carey nicht bloss eine Reflexion der Kultur und des gemeinsamen Wissens, sondern formt Kultur, Wahrnehmung, Wissen und Selbstverständnis. Dabei spielen Medientechnologien eine gewichtige Rolle.
Carey verstand Kommunikationswissenschaft als Chance, unser Verständnis von verschiedenen Kulturen und anders denkenden Menschen zu erweitern, Kommunikation über Grenzen hinweg zu verbessern und die Gesellschaft inklusiver zu machen.
Kapitel: The Case of the Telegraph
Im letzten Kapitel seines Buchs untersucht Carey die Rolle der Telegraphie bei der Entstehung des industriellen Monopolkapitalismus (Stahlindustrie, Eisenbahnen, Grossbanken). Es beginnt mit der Erzählung davon, dass das vornehme Boston 1944 ans industrialisierte Amerika angeschlossen wurde. Drei Errungenschaften des 19. Jahrhunderts kamen in diesem Jahr in die Stadt: die Eisenbahn (Boston and Albany Railroad), die Dampfschiffahrt (Cunard Steamers) und die Telegrafie (die Linie zwischen Boston–Baltimore–Washington DC). Von den drei Transport- und Medientechnologien bleibe die Telegrafie das am wenigsten erforschte Feld. Das Standardwerk sei 40 Jahre alt (Robert L. Thompson: «Wiring a Continent: The History of the Telegraph Industry in the United States, 1832-1866», 1947) und behandle bloss die Gründung von Western Union, dem ersten grossen Kommunikations-Monopol der USA. Dieses Monopol wurde durch einen der grössten Rechtsstreite in den USA im 19. Jahrhundert geschaffen, den «great telegraph war» zwischen Jay Gould und William H. Vanderbilt. Gould, der Eigentümer der «Atlantic and Pacific Telegraph Company» die später mit der Western Union fusionierte, war im Besitz der Patente für die Quadruplex-Telegrafie, die er 1874 für $30.000.– (das entspricht $808'000 im Jahr 2023) von Thomas A. Edison gekauft hatte. Das Patent sicherte ein Multiplex-Verfahren in der Telegrafie. Damit konnten gleichzeitig durch ein Kabel zwei Nachrichten in jeder Richtung versandt werden. Gould nutzte den Quadruplex, um einen Preiskrieg gegen Western Union zu führen. Er verkaufte seine Aktien. Cornelius Vanderbilt war der größte Anteilseigner von Western Union und war von Jay Goulds Preiskampf am stärksten betroffen. Vanderbilt starb während der Saga, wodurch sein Sohn William die Leitung übernahm. William Vanderbilt war, ähnlich wie sein Vater, Jay Gould nicht gewachsen und gab schnell nach. Um den Preiskrieg zu stoppen, kaufte «Western Union» für 5 Millionen Dollar (das entspricht 135 Millionen Dollar im Jahr 2023) die «Atlantic Pacific» auf und erhielt damit die Rechte am Quadruplex von Jay Gould.
Carey stellt fest, dass das Forschungsvakuum im Feld der Telegrafie unglücklich sei, zum einen wegen der Tatsache, dass Western Union das erste grosse Monopol der USA, die erste elektrotechnische Wirtschaftsbranche überhaupt war. In dieser Branche war «Corporate Capitalism» auch in der Zukunft üblich (David Noble: American by Design, 1977). Zum anderen strukturiere die Telegrafie die Wahrnehmung, die Sprache und das Wissen neu. Folglich sei die Telegrafie eine Weggabelung (Carey spricht von «watershed») für die Entwicklung der Kommunikation in der US-Gesellschaft.
Einerseits wurde Telegrafie dazu verwendet, Nachrichten von A nach B zu übertragen. Durch die Nachrichtenübertragung wurden Kommunikation und Transport differenziert. Bisher musste eine Nachricht zu Fuss, zu Pferd oder per Eisenbahn vom Ausgangsort an den Zielort transportiert werden. Die technische Einrichtung der Telegrafie machte es hingegen möglich, Symbole, Zeichen, Botschaften, Nachrichten schneller als bisher und unabhängig von einem Weg zu übertragen. «The telegraph freed communication from the constraints of geography» (p. 204). Die Telegrafie diente aber auch der Fernsteuerung und der Kontrolle von Prozessen aus der Distanz. So wurden zum Beispiel Signale und Weichen der Eisenbahn von Kontrollwerken aus gestellt. In diesem Sinn war die Telegrafie ein Vehikel für die Veränderung von Ideen. Mit ihr tauchten neue Ideologien auf. Die gesellschaftliche Ideologie bestand darin, die Medientechnologien zu naturalisieren, sie in die bestehende Ordnung der Dinge einzufügen. Die Ideologie des folkloristischen Alltagsverständnisses hingegen dachte sich die neuen Technologien in theologischen Kategorien und Modellen: Leo Marx prägte dafür den Begriff «the rhetoric of the technological sublime» woraus Carey «the rhetoric of the electrical sublime» macht. Dem Telegraphen nämlich wurde die Kraft zugeschrieben, die Wildnis im Hinterland zu zähmen. Man sprach vom «noiseless tenant of the wilderness». Der philosophische Idealismus der Zeit förderte diese Art der Verklärung. Die Telegrafie war kein weltliches Faktum, sondern ein Mittel der Bekehrung – kein Wunder, denn Kommunikation hat man traditionellerweise von der Religion her verstanden [nämlich als Zugehörigkeit zur Gemeinde und als Teilhabe an der Güte Gottes oder des Erlösers. Das verwendete Wort war allerdings «communion».] Auch weniger theologisch funktionierte der Idealismus der Zeit: Die Ideologie des Mittelstands lautete: Kommunikation schafft Menschlichkeit, Aufklärung, Fortschritt. Wer nicht «online war», stand in Gefahr Barbar zu bleiben oder zu werden. (Benjamin Franklin, die Verkörperung der Max Weberschen protestantischen Ethik, war ein Mann, der sich der Erforschung der Elektrizität widmete. Er sah in ihr eine entscheidende moralische und soziale Kraft.) Die Idee des «common sense», mit der Thomas Paines die amerikanische Unabhängigkeit anheizte, erhielt eine neue Dimension.
Die Telegrafie beeinflusste die Sprache in der Öffentlichkeit über die Zeitungen und Zeitschriften, deren Zweck mehr und mehr darin bestand, Neuigkeiten an den Endpunkten des Telegrafienetzes zu verbreiten, als politische und moralische Kommentare zu schreiben. Dadurch wurde der literarische Stil von einem sachlich-naturalistischen Stil abgelöst. Es ging zunehmend um die Story, statt um den Erzähler. Als literarischer Stil schlug sich das bei Ernest Hemingway nieder. «Der Telegraph machte die Prosa schlank und schmucklos und führte zu einem Journalismus ohne den Luxus von Details und Analysen», schreibt Carey (p. 211).
Bevor es die Telegrafie gab, waren Handelsbeziehungen persönlich. Verkäufer und Käufer redeten miteinander und handelten Preise, Mengen und Qualität ihres Handels unter sich aus. Mit der Telegrafie veränderte sich das dramatisch. Nun bildete sich ein Monopolkapitalismus heraus. Zunehmend unpersönliche Handelsbeziehungen und die Homogenisierung der Märkte (Baumwolle in Memphis kostete nun gleich viel wie Baumwolle in New Orleans) waren der Effekt der blitzschnellen Nachrichtenübertragung. Die Wirkung des Telegrafen ist einfach: Er bringt alle Anbieter und Käufer zum Zweck des Handels an den virtuell gleichen Ort. Die Geographie wird irrelevant. Abgesehen von marginalen Ausnahmen hier und da beseitigt die Telegrafie Möglichkeiten zur Arbitrage. Arbitrage im Handel bedeutet, einen Vermögenswert gleichzeitig an zwei verschiedenen Märkten zu kaufen und zu verkaufen, um von einem Preisunterschied zu profitieren. Die Telegrafie verwirklicht die klassischen Annahme des perfekten und transparenten Marktes. Kanäle, Strassen und Eisenbahnlinien haben Märkte bereits vorher regionalisiert, die Telegrafie hingegen hat sie nationalisiert und sogar internationalisiert. Zudem förderte er die Spekulation oder mit anderen Worten er verschob Arbitrage zu Futures. Handel fand nun zunehmend nicht zwischen verschiendene Orten mit verschiedenen Preisen statt, sondern zwischen verschiedenen Zeiten. Ich kaufe jetzt etwas, was in der Zukunft an Wert gewonnen haben wird. Zeit war nun Geld. Und dieser Effekt wurde genutzt, um New York zum Zentrum des Aktienmarktes zu machen. Eine 30 Sekunden Verzögerung im Informationssystem soll New York zum primären Handelsplatz für Wertpapiere gemacht haben.
Es gab drei weitere Effekte der Verschiebung der Güter aus dem Raum in die Zeit: Märkte wurden dekontextualisiert. Gehandelt werden nicht Güter gegen Geld, sondern Zeit gegen Geld. Die Handelsgüter wurden auf Distanz nicht mehr beschaut, sondern es wurden Qualitätsstandards eingeführt. Man kaufte nicht Weizen, sondern Weizen einer gewissen Qualität. Es war wie bei Amazon oder ZVAB: Ein Buch ist neu, wie neu, gebraucht usw., je nach seinem Zustand.
Die ökonomische Kritik von Karl Marx am Kapitalismus habe viel mit diesen Verschiebungen und der Dekontextualisierung von Ware, Wert und Zeichen zu tun (siehe p. 221 f.). In der Kunst hat Walter Benjamin den Verlust der Aura des Werks beklagt. Auch der Komponist Igor Stravinsky hat diese Veränderungen mit dem Ausdruck auf den Punkt gebracht «the statisticalization of the mind».
Die Welt vor der Telegrafie bestand aus Regionen mit Zentren (Städten), in denen es Marktplätze gab. Zeit richtete sich an diesem Zentrum aus. Mit der Telegrafie wurden Standardzeiten eingeführt (am 18. November 1883), Zeitzonen, was besonders der Eisenbahn und ihren Fahrplänen zugute kam. Viele Menschen hielten die Standardzeit für eine Zerstörung der natürlichen Ordnung.
Quellen
– zum Kapitel Technology and Ideology: The Case of the Telegraph

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