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Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann
Als Epochengrenzen in der neusten Geschichte gelten das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Fall der Mauer bzw. der Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Das Buch ergänzt diese Perspektive durch eine weitere Zäsur im Jahr 1979, als einige globale Ereignisse die heutige Gegenwart einläuteten: der islamische Fundamentalismus, globale Flüchtlingsbewegungen, der Neoliberalismus, der sich durchzusetzen begann, Energieprobleme, China, das sich der westlichen Wirtschaft öffnet, der Atomunfall in Harrisburg, der Pole Karol Józef Wojtyła, der als Papst Johannes Paul II Polen bereiste und 10 Millionen Menschen zu mobilisieren vermochte. An Weihnachten marschierte die SU in Afganistan ein. 1979 war das Jahr, in dem die London Times die Häufung der Ereignisse feststellte und kommentierte, dass einem davon ganz schwindlig werde: «Kurz nachdem wir von einem Ereignis überrollt wurden, passierten gleich neue mit doppeltem Tempo.»
Ein wichtiges Stichwort, das mit dem Anfang von 1979 einhergeht ist Globalisierung. Anthony Giddens hat als Merkmal der Globalisierung gekennzeichnet, dass lokales Handeln durch weit entfernte Ereignisse beeinflust werden. Das war mithin auch ein Ergebnis des Medienwandels und des weltumspannenden Flugnetzes: Das Fernsehen brachte immer flächendeckendere Live-Berichte. Politiker*innen reisten vermehrt an Krisenorte, Journalist*innen Aktivist*innen, Expert*innen, Unternehmer*innen taten es ihnen gleich. In den Jahren nach 1979 wurde die polare Welt des Kalten Kriegs zu einer multipolaren Welt (Klaus Leggewie) mit neuen Playern wie den islamischen Staaten und China.
Ein anderes Stichwort für die Welt nach 1979 ist die Postmoderne, verstanden als eine modernisierte, radikalisierte Moderne. Auch die gesellschaftliche Selbstbeschreibung mit dem Begriff «Risikogesellschaft» (Ulrich Beck) machte sich breit. Christian Caryl sprach vom Jahr 1979 als dem «great backlash», mit dem die utopischen Hoffnungen auf eine bessere Welt aufgegeben wurden.
Böschs Buch behandelt zehn Ereignisse aus 1979 von globaler Bedeutung und expliziert deren Wirkung auf die Zeit danach und die Gegenwart:
– die Revolution im Iran
– Johannes Paul II in Polen
– die Revolution in Nicaragua
– Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping
– die Boat People aus Vietnam
– der sowjetische Einmarsch in Afganistan
– Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen
– die zweite Ölkrise
– der AKW-Unfall in Harrisburg
– die Fernsehserie Holocaust
Die untersuchten Umbrüche seien unter Krisenkonstellationen entstanden, in denen charismatische konservative (!) Figuren ihre Chance («window of opportunity») ergriffen und die Medien nutzten, um auf Reformen zu pochen oder sie einzuleiten, auch wenn keine fertigen Rezepte vorlagen. Ein Teil von ihnen waren Religionsführer, die ihren Religionen neue, vorher undenkbare politische Präsenz zu verschaffen vermochten.
Querverweise
– Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart
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