Musikzimmer Blog Post: Dick Hebdige: Towards a Cartography of Taste 1935-1962

Willkommen im Musikzimmer! Dies sind die empfohlenen Inhalte, Neuerscheinungen und Veranstaltungsankündigungen.

Bernard Waites (Ed.) & Tony Bennett (Ed.) & Graham Martin (Ed.): Popular Culture, Past and Present: A Reader

«Popular Culture, Past and Present» ist ein Sammelband, der an der Open University verwendet wurde. Darin findet man einen Text von Dick Hebdige zur Archeologie des Geschmacks, der ursprünglich im «Block Magazine» (Nr. 4, 1981) erschienen ist und an mehreren Stellen gekürzt wurde. Darin führt Hebdige die Resultate einer Diskursanalyse zum Thema des Geschmacks im Vereinigen Königreich in den Jahren zwischen 1935 und 1962 vor.
Towards a Cartography of Taste 1935-1962
Hebdige geht der Frage nach , wie in der Zeit vor den Beatles, den Mods und der Rockmusik im Vereinigten Königreich die Grenze zwischen gut und schlecht gezogen wurde, dem Hässlichen und dem Schönen, dem Vergänglichen und dem Bleibenden. Die beobachteten Veränderungen werden sodann auf die Entstehung neuer Konsummuster und neuer technologischer Entwicklungen zurückgeführt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse bilden die gesellschaftliche Basis, die Begriffe und die Wertungen, die sie zum Ausdruck bringen sind Überbau [infrastructure vs. superstructure].
Die Diskursanalyse verfährt entlang von zwei Schlüsselbegriffen: «Amerikanisierung» und «Nivelierung» («leveling down»). Im Lauf der Argumentation kommt «streamlining» hinzu.
Historischer Hintergrund: Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Vereinigte Königreich schlagartig. [Churchill musste Wahlen in die Wege leiten, bei denen der Labour-Chef und Oppositionsführer Clement Attlee in einem Erdrutschsieg zum Premier gewählt wurde.] Die Wähler machten deutlich, dass sie nicht zur Vorkriegsordnung zurück wollten. Die Attlee-Regierung reformierte die Wohlfahrtsprogramme, [die Bildung] und verstaatlichte Betriebe [wie die Bank of England, die Zivilluftfahrt, Kohlebergwerke, die Eisenbahn, der Strassengüterverkehr, die Kanäle, die Telekommunikation, die Elektrizitätsversorgung und die Stahlindustrie. 1951 war 20 % der britischen Wirtschaft in Staatsbesitz.] Die alten quasi-feudalen Strukturen kamen unter die Räder von Modernisierung, Fortschritt und Reform.
Hebdige referiert das Spätwerk des katholisch-konservativen Schriftstellers Evelyn Waugh, der die alte Oberklasse repräsentiert. Waugh hasste Jazz, Picasso, Demokratie, Plastik, Sonnenbaden. Aber auch andere Autoren wie George Orwell, T.S. Elliott und Richard Hoggart beobachteten besorgt die Nivellierungstendenzen, die mit der modernen Massengesellschaft einhergingen. Hebdige stellt fest, dass es zwar keinen Konsens zwischen verschiedenen konservativen Stimmen gab, was genau von der Vorkriegsgesellschaft erhalten werden soll. Man war sich lediglich darin einig, dass etwas erhalten werden sollte. Verachtet wurde der «milde Reiz des Nachkriegsreichtums – Fernsehen, hohe Löhne und Konsumismus» (p. 199). Waugh, Orwell und Hoggart hätten einen unbewussten Konsens geteilt, dass die Nachkriegswelt eine negative Entwicklung darstelle. Sie alle wiesen auf den schädlichen Einfluss der amerikanischen Populärkultur hin. Die Amerikanisierung brächte den Prozess der «Nivellierung» mit sich. Das demonstrieren Texte wie «Brave New World» (Huxley), «Subtopia» (Fyvel), «Megalopolis» (Spengler) oder das «Kosy Holiday Kamp», über das Hoggart schrieb. Amerika wurde von diesen Schriftstellern als die Homogenisierungs-Agentin schlechthin gesehen und seit den 1930er Jahren als industrialisiert barbarisches Land, eine Land ohne Vergangenheit (Geschichte) und daher ohne Kultur, ein Land, das von Wettbewerb, Profit und Erwerbssucht beherrscht wird. Die verdeckte Feindseligkeit wurde nach dem Krieg noch verschärft, weil das Vereinigte Königreich sein Empire verloren hatte und die USA schienen, die Nachfolge anzutreten.
Auch in den Medien wurde das Bild der USA beeinflusst durch ein paternalistisches Framing von Berichten. Bei der BBC gab es während der 1940er und 1950er Jahren detaillierte Richtlinen, wieviel amerikanisches Material berücksicht werden sollte und wie es in welchem Kontext präsentiert werden sollte. Die staatlieche Sendeanstallt zeigte sich besorgt über den zerstörenden Effekt von Swing, Crooning und Jazz. Als der Rock 'n' Roll aufkam, wurde er aktiv ignoriert. Ein Kriterium wie Authentizität wurde beigezogen, um akzeptable Formen von Musik gegenüber inakzeptablen abzugrenzen. Als «akzeptabel» galten Swing, Balladenmusik, Blues, Folk und Tradjazz. Rock 'n' Roll hingegen wurde gern im Kontext von Jugendkriminalität präsentiert. Auch die in den 1950er Jahren aufgekommenen Milchbars in England standen für Rebellion, Verweiblichung der Kultur, die Errosion der Autorität, dem Verlust des Empires und den schwindenen Besuchszahlen in Kirchen.
Das Wort «Stromlinienförmigkeit» («streamlining»), das aus der Sprache des Design kam und aerodynamische Fahr- und Flugzeuge bezeichnete, wurde zum Signifikant der Amerikanisierung und zur Blasphemie. Ab den 1940er Jahren hiess «streamlining» schlicht schlechter Geschmack der Massen. Europäisches Design war am Bauhaus oder an der Arts & Crafts Bewegung geschult und vertrat das Prinzip «Form follows Function». Amerikanisches Design hingegen galt als dekorativ und dekadent. Hier stand Design im Dienst des Mythos, der mit dem Produkt verkauft wurde. In Europa galt «Streamlining» als «industrieller Barbarismus, stilistische Inkontinenz und Exzess.».
Der Stromlinienform kam seit 1930 auf und wurde spätestens in den 1950er Jahren «populär» im Sinne von «kommerziell erfolgreich», «demokratisch», «antipuristisch» und «antiklassizistisch». Zwei wichtige Entwicklungen, die Verfeinerung der Pressstahltechnologie und die Schaffung neuer Verbrauchermärkte. In der Zeit vom und um den Weltkrieg herum wandelte sich in den USA die Produktion, die nicht länger geometrische Fertigformen verwendete sondern beliebige Formen pressen konnte, die zusammengeschweisst wurden. Das machte Autos wie den Cadillac El Camino mit seinen grotesken Heckflossen möglich.
Vertreter*innen des kontinentaleuropäischen Designs empfanden dies als Kitsch. Es waren nicht nur konservative Kräfte, von denen die Kritik an der modernen Massenkultur amerikanischer Prägung ausging. Die Neue Linke blies ins selbe Horn. One-Dimensional Man von Max Horkheimer zeichnete das Bild wohlhabender amerikanischer Arbeiter, die in einen geschlossenen Produktions- und Konsumkreislauf eingebunden sind, die gleichen Fernsehprogramme schauen und die gleichen Urlaubsorte besuchen wie ihre Arbeitgeber. Der Kampf dieser Arbeiter ziele nicht auf die Befreihung aus entfremdeten Arbeitsstrukturen, sondern um mehr Konsum-Möglichkeiten.
Der Konsum hat sich in den den 30er und 60er Jahren radikal verändert. Paul Wild verfolgte die Entwicklung neuer Formen des Konsums von 1900 bis 1940 – vor allem die Ausbreitung von Kinos und Tanzlokalen – in der Provinzstadt Rochdale. Dabei stellte er ein Wachstum von Freizeitoligopolen fest, z.B. Rank und EMI. Als in den frühen 1950er Jahren extravagante Subkulturen wie die Teddy Boys aufkamen, deren Geschmack sich nach amerikanischen Vorbildern richtete, wurden die Klassenunterschiede eher verschärft als aufgehoben. Teddy Boy zu sein kostete viel Geld.
Der neue Konsumismus brachte neue Widersprüche hervor. Die bei den kulturellen Eliten negativ besetzten Begriffe wurden von der Neuen Linken bzw. der Gegenkultur positiv umbesetzt: Hedonismus, Zwecklosigkeit, Verfügbarkeit usw.
Europäische Intellektuelle standen in einer Tradition, die Wert auf Authentizität legte: ein Produkt hat einzigartig zu sein, ehrlich, funktional. Doch wie Walter Benjamin feststellte: Die Reproduktion entkoppelt Objekte von ihrem Bezug auf Tradition. Ebenso sagte Antonio Gramsci voraus, dass die Einführung amerikanischer bzw. fordistischer Produktionsmethoden zu einer Intensivierung der ökonomischen Ausbeutung und zu einer zunehmend effizienten Einmischung des Staats in alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens führe.
Benjamin redete vom «destruktiven, kathartischen Aspekt», von der «Liquidierung des traditionellen Wertes des kulturellen Erbes». Kulturkonservative aller Couleur reagierten in den Jahren zwischen 1935 und 1965 genau darauf. Sie erkannten, dass es um eine neue Zukunft ging – die nicht mehr die ihre war.
Die Veränderungen des Geschmacks und der Konsummuster, die sich in dieser Zeit ereigneten, hatten mit dem Verbrauchermarkt zu tun und mit Waren/Objekten, die entweder aus Amerika importiert wurden oder in Europa adaptiert wurden: Filme, [Stars], Populäre Musik, Massenprodukte, Milchbars, Haarstile und Kleider. Es besteht kein Zweifel, dass Amerika in der Nachkriegszeit einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Kultur ausübte. Zahlen dazu (Quelle: Bigsby: Superculture): Man schätzte 1973, dass 50 % der weltweiten Fernesehzeit mit amerikanischen Filmproduktionen besetzt waren. In Westeuropa waren es mehr als 20 % der Sendezeit. 20-25 % der britischen industriellen Produktion wurde von amerikansichen Firmen kontrolliert. Acht führende Werbeagenturen waren im Besitz amerikanischer Firmen.
Ursprüngliche Ängste vor kultureller Homogenisierung erwiesen sich als unbegründet: Die neue Populärkultur brachte eine vielzahl von Formen hervor, die sich immer neu kombinieren lassen.
In der untersuchten Zeit gibt es auch eine positive Wahrnhemung Amerikas, eine Mythologie der Neuen Welt. Möglicherwese ist das ein Überbleibsel aus der Romantik. In dieser Wahrnehmung fungiert Amerika als junge, unschuldige und dynamisch kraftvolle Kultur/Nation. Unter diesem Mythos wurde auch Präsident John F. Kennedy gesehen.
Der Text ist leider nicht an jeder Stelle kohärent und die Methode undurchsichtig. Wie die Basis den Überbau prägt, bleibt dunkel, dass sie es tut, steht nicht in Zweifel. Die Begrifflichkeiten des Überbaus werden noch an Texten gezeigt, wenn auch nicht so, wie es in den Literaturwissenschaften Standard ist. Die Zusammenhänge mit der Produktion, die Unterschiede der ökonomischen Verfassung der amerikanischen und der europäischen Gesellschaft lässt zu wünschen übrig. Hebdige schreibt selber, dass diese Zusammenhänge im beschränkten Raum eines solchen kurzen Textes kaum angemessen behandelt werden können (p. 195).
Der Beitrag ist aber erhellend, weil die Nachkriegsordnung in Europa für alle Länder eine gewisse Ambivalenz gegenüber den USA mit sich brachte. Zum einen nahmen die europäischen Gesellschaften (der Plural ist hier wohl angebrachter als der Singular) die USA als Vorbild, ganz ausgesprochen in allen ökonomischen Aspekten. Man importierte zusehends die Konsumgesellschaft mit den Absatzmärkten und diese brachten PR, Werbung und Marktforschung mit sich, die es vorher in Europa schlicht nicht gab. (Es gab lediglich eine hoch entwickelte politische Propaganda.) Hebdiges Text zeigt, mit welchen Kräpfen das fremde System in England adaptiert worden ist. Davon scheint einiges in andere europäische Nationen übertragbar, wobei man nicht umhin kommt, jedes Land mit seinen je eigenen Bedingungen zu untersuchen. Dann sind es ja nicht nur «Krämpfe», also Schwierigkeiten des Willens, bei der Adaptation eines neuen und fremden Wirtschaftssystems. Die Adaptationsleistung bringt allerlei Begleitkonzert mit sich, das wiederum kulturellen Sprengstoff enthält: die Aufwertung des Populären, der Konsument*innen und deren Bedürfnisse, die Veränderung des Bildungssystems, um ein paar wichtige zu nennen.

Link zum Inhalt: [M]