Musikzimmer Blog Post: Entfremdung

Willkommen im Musikzimmer! Dies sind die empfohlenen Inhalte, Neuerscheinungen und Veranstaltungsankündigungen.

Entfremdung

«Entfremdung» ist ein Begriff, der aus der Bewusstseins-Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel stammt und von Karl Marx Sozialphilosophisch zu einem zentralen Begriiff des Marxismus zugespitzt wurde.
Umberto Eco bestimmt «Enfremdung» als «den Verzicht auf sich selbst, um sich einer fremden Macht zu überantworten» (Das offene Kunstwerk, S. 237). Eco arbeitet drei verschiedene Bedeutungsnuancen heraus, wie der Begriff historisch gebraucht worden ist: a) eine vulgärmarxistische, b) die ursprünglich hegelianische und c) die davon abgeleitete marxistische.
Vulgärmarxistisch
Eco hält diesen weitverbreiteten Gebrauch von «Entfremdung» für einen Missbrauch: «dass nämlich das, was uns agiert und von dem wir abhängen, etwas uns völlig fremdes sei, eine feindliche Macht, die von einem völlig anderen Bereich aus auf uns einwirkt, ein böser Wille, der uns unterjocht hat und den wir vielleicht eines Tages werden vernichten können» (Das offene Kunstwerk, S. 237). Dieses Verständnis ist ein politischer Kampfbegriff, denn diese böse Macht muss im Namen der Freiheit beseitigt werden. Auch mit Gewalt. Heute wird der Begriff des «Systems» auch oft so gebraucht, wenn man sagt oder denkt, dass das System (als undurchsichtiges Geflecht von reichen und bösen Menschen und ihren Institutionen) zerschlagen werden muss.
Hegel
In Hegels Bewusstseins-Philosophie wird der arbeitende Mensch behandelt, der (als Subjekt) in die Welt eingreift und sich so in seinem Werk objektiviert. Die Menschen als Subjekte stehen in einer dialektischen Beziehung mit ihren Werken (den Dingen, die sie schaffen, den Beziehungen, die sie eingehen, den sozialen Institutionen, die sie einrichten. Indem Menschen diese Werke schaffen, stehen sie zu ihnen in Beziehung und werden von ihnen zur Anpassung an sie gezwungen. Man säht etwas auf dem Acker, muss die Pflanzen dann aber pflegen, damit sie gedeihen, und ernten, wenn es Zeit ist. Man geht eine Beziehung ein und gründet eine Familie. Man schafft ein Staatswesen und muss Steuern zahlen, damit die Institution funktioniert. Was Menschen in die Welt setzen, nimmt Einfluss zurück auf sie.
Marx
Karl Marx ging von Hegel aus und unterschied fortan zwischen «Entäusserung» und «Entfremdung». Der erste Fall, die Entäusserung, sei im Sinn von Hegel: Die Menschen schaffen sich eine Welt, in der sie sich engagieren müssen. Wenn dann aber «der Mechanismus dieser Welt die Oberhand über den Menschen gewinnt, der dann unfähig wird, sie als sein eigenes Werk zu erkennen, wenn es dem Menschen nicht mehr gelingt, die Dinge, die er produziert hat, für seine Zwecke zu gebrauchen, sondern in gewissem Sinne zum Sklaven dieser Dinge (und damit oft anderer Menschen) wird, dann ist er entfremdet» (Das offene Kunstwerk, S. 238). Der erste Unterschied zu Hegel ist hier, dass der unvermeidliche Vorgang der Entäusserung in der Entfremdung einen Aspekt erhält, der zwar faktisch aber unrechtens sei. Da die Entfremdung historisch zufällig auftritt, z.B. im Manchester-Kapitalismus, ist er auch historisch überwindbar. Die Lösung war für Marx der Kommunismus. Der zweite Unterschied zu Hegel ist, dass dieser sie rein Bewusstseinstheoretisch betrachtet hat, als Entwicklung des Geistes, und nicht konkret als Dialektik von Subjekt und Gesellschaft. Zu klären wäre hier freilich noch, inwiefern Linkshegelianer Hegel einfach umgekehrt haben und von objektiven Verhältnissen ausgegangen sind oder inwiefern sie streng dialektisch blieben. Arbeit jedenfalls schien bei Hegel reine Geistestätigkeit, ein Spiel von Negationen und Affirmationen, während Marx von den Missständen des damaligen Kapitalismus ausging und diese Fehlentwicklung korrigieren wollte.
Geld und Ware
In der Marxistischen Wendung von Hegels Begriff bringt der Geist gemäss Bestands- und Entwicklungsgesetzen konkrete Produkte hervor, die auf einem Markt einen Preis erzielen. Es ist der Markt, der den Preis erzeugt und nicht der Arbeitseinsatz (die Zeit, das Geschick des arbeitenden Menschen). Somit kommt zur dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehung eine weitere Beziehung zu einem preisbildenden Markt hinzu, die die Menschen entfremden kann.
Kunst
Auch die Kunst wurde im dialektischen Verhältnis von Produzent und Werk gesehen. Eine kunstschaffende Person, die ein Werk hervorbringt, ist von diesem entfremdet im hegelschen Sinn. Sie verhält sich zu ihrem Werk auch als Interpret*in. Das Werk enthält Aspekte, die nicht geplant waren, die überraschend sind, die das Künstlersubjekt wiederum verändern. Ein weiterer dialektischer Aspekt ist der Wert, dem ein Kunstwerk zukommt. Eine persönliche Errungenschaft ist nicht notwendig auch ein wertvolles Werk. Auf dem Kunstmarkt erzielten viele Küntler*innen zu ihren Lebzeiten nicht, was ihre Werke nach ihrem Tod Wert waren. Wie die Kommunikationstheorien des 20. Jahrhunderts es darstellen (die Nomenklatur hier ist Sender-Botschaft-Empfänger, statt Subjekt-Werk-Markt) ist die Hegelsche Entfremdung eine zweifache. Arbeiter*innen, der Produzent*innen, der Künstler*innen (qua Subjekte) werden durch ihre Werke selbst enfremdet und dann noch einmal durch den gesellschaftlich verbürgten Wert (Marktwert, Aufmerksamkeit). Systemtheoretsich kann der Entfremdungsbegriff als ein Feedbackmechanismus gefasst werden. Das Objekt, Produkt, Werk hat einen Einfluss zurück auf das hervorbringende Subjekt. Ein zweiter Feedbackmechanismus kommt vom Markt her. Heute kann man zwei wesentliche Märkte unterscheiden, den Aufmerksamkeitsmarkt auf dem entschieden wird, über wen und was in der Öffentlichkeit gesprochen wird und den preisbildenden Markt, auf dem der Preis für eine Leistung oder ein Produkt bestimmt wird. Beides, Öffentlichkeit und Marktpreis, hat eine Wirkung zurück aufs Subjekt.
Psychologischer Entfremdungsbegriff
Neben den drei bisher erläuterten Begriffsbedeutungen von «Entfremdung» kommt eine weitere häufig verwendete hinzu, die eher psychologisch gemeint ist oder existential-philosophisch: Gemeint ist mit Entfremdung eine psychologische Eigenschaft (ein «trait»), wonach ein Mensch sich als vereinzelt und abgegrenzt von allen anderen Lebewesen und Dingen empfindet.
Querverweise
Resonanz
Kommunikationstheorie
Marxismus
Neomarxismus
Quellen
– Songfacts: Songs about loneliness or isolation

Link zum Inhalt: [M]