Musikzimmer von Christian Schorno: Inhaltsübersicht / Overview

Willkommen im Musikzimmer! Dies sind Hinweise auf Archivalien, aktuelle Themen, kuratierte Playlisten, neue Tracks, Alben, Bücher und Artikel.

Jens Balzer: Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik

Es war einmal in Deutschland. Dort gab es einen Echo-Preis für erfolgreiche Popmusik. 2018 waren zwei Gangstarapper für den Preis nominiert: Kollegah und Farid Bang. Sie veröffentlichten das bis dahin erfolgreichste Kollaborations-Album «Jung, brutal und gutaussehend 3». Die Texte auf diesem Album sind frauenfeindlich, homophob, faschistisch und antisemitisch. Ein Ethik-Beirat des Echo stellte fest, dass dieses Album zwar einen Grenzfall darstelle, aber keinen Anlass für einen Ausschluss der nominierten Künstler böte. Eigenartig war, dass der Beirat sein Urteil vor allem auf den Track «0815» abstützte, der gar nicht auf dem nominierten Release zu finden ist, sondern auf einer Deluxe-Ausgabe des Albums. In diesem «0815» furzen Päng und sein Kollega in einem schlechten Reim was von Auschwitz-Insassen. Trotz Ethik-Beirat traten die beiden Grenzfälle tatsächlich in der Awardshow auf! Während ihrer Performance fielen Flaggen von der Decke, die an Nazi-Veranstaltungen erinnert hätten. War das eine Provokation oder ein Spiel mit der faschistischen Architektur des Raumes? War es beides? Jedenfalls kam dann der Aufruhr: Campino von den Toten Hosen fand noch in der Show, dass eine Grenze überschritten sei. Die Rapper wurden vom Publikum ausgebuht, aber die Show nahm ihren Lauf und alle schauten zu, die einen amüsiert die anderen angwidert. Nach dem Abend wurden reihenweise Preise zurückgegeben. Der Echo wurde entwertet wie das Geld am schwarzen Donnerstag. Die Show von 2018 war nicht nur das Letzte sondern die letzte. Zwei unbeliebte, junge, brutale und gutaussehende Rapper haben den selbstgefälligen deutschen Popbetrieb mächtig gestört und sind – geben wir es ruhig zu – in die Geschichte eingegangen.
Jens Balzer setzt sich in diesem Buch unter anderem mit Rechtspopulismus im Pop auseinander, mit Hassreden im Rap, mit antisemitischen, homophoben, sexistischen oder deutschtümelnden Lyrics in der Gegenwartsmusik. Dabei deckt er eine rhetorische Figur auf, die verwendet wird: Zuerst wird provoziert, Hass verbreitet, diskriminiert und wenn die Künsterinnen und Künstler zur Rechenschaft gezogen werden, dann haben sie es nicht so gemeint (es ist ja Kunst und nicht das Leben, uneigentliche Rede in einem Feld, in dem die Sprechenden und sich Verhaltenden prinzipiell frei sind, zu sagen und zu tun, was sie gutdünkt). Zuletzt sehen und inszenieren sich die so Angegriffenen als das Opfer einer missgünstigen Gesellschaft. Es sei ein «rhetorischer Dreischritt» von (1) aggressiver Grenzüberschreitung, (2) Relativierung und (3) larmoyanter Selbstviktimisierung. Die Kunst werde offensichtlich dazu benutzt, ungestraft «hate speech» von sich zu geben. Balzer wundert sich, weshalb «diese Art der musikalischen Hassrede in den letzten Jahren so wenig kritisiert worden» sei. Es geht ihm darum, wieder zu einer Kritik zu gelangen, die Grenzen des Zulässigen benennen könne (S. 36).
Weitere Themen
Neben dem Gangsta-Rap (Kapitel 2) behandelt Balzer den Antisemitismus (Kapitel 3), den Seximus in der Musikindustrie und die MeToo Reaktion dagegen (Kapitel 4), queere Selbstermächtigung (Kapitel 5), den Heimatrock von rechts (Kapitel 6), Heimatmusik von links (Kapitel 7), die Neue Rechte und der Rechtspopulismus, die keine Musik haben, weil buchstäblich niemand gewillt ist, sich hinter diese Parteien zu stellen, nicht mal Heimatrocker*innen und Gangsta-Rapper*innen (Kapitel 8), Pop und Identitäten (Kapitel 9), in dem es darum geht, dass Pop eklektizistisch ist, ein Stilgemisch, und schliesslich eine Art Fazit mit der Überschrift «Freundschaft im Pop» (Kapitel 10). Dieses Kapitel hält noch einmal fest, «dass guter, schöner, emanzipierter Pop immer eine Ästhetik des Werdens und der Grenzüberschreitung verfolgt, eine Ästhetik der Verunsicherung und Überschreitung überkommener Verhältnisse; und eine Ästhetik des Empowerments all jener Menschen, die nicht so leben wollen oder können, wie es ihnen von den Verhältnissen vorgegeben wird. [...] schöne, gute und wahre Kunst ist gerade jene die sich mit ästhetischen Mitteln an der Erschaffung von solidarischen Verhältnissen versucht» (S. 186).
Bewegung ohne Musik
Die Neue Rechte sei eine soziale Bewegung ohne Musik. (Man sieht das offensichtlich in den USA, wo kaum eine Künstlerin oder ein Künstler an Donald Trumps Wahlkampfveranstaltungen oder an seiner Inaugurationsfeier auftreten möchte.) Auch die deutsche AfD findet kaum Musikerinnen und Musiker, die sich hinter die Partei stellen oder mit ihr assoziiert werden möchten. Das ist in vielen Fällen schlicht erstaunlich. Die Gangstarapper mit ihrem islamischen Hintergrund haben natürlich ein ambivalentes Verhältnis zur AfD, das versteht man, aber auch deutsche Formationen lassen sich politisch nicht ein.
Nützliche Idioten eines rassistischen Systems
Bei der Auseinandersetzung mit Gangstarap im zweiten Kapitel arbeitet Balzer heraus, wie der Gangsarap der Nullerjahre ein «Laboratorium der politischen Inkorrektheit» darstellte. In diesem klar umgrenzten Freiraum wurden «reaktionäre Fantasien, Haltungen und Vokabulare» ausprobiert, die im Verlauf der folgenden Jahre in den Mainstream einsickern konnten. Eine Bedingung der Möglichkeit für diese Diffusion in den Mainstream ist, dass die Protagonisten als gesellschaftliche Aussenseiter wahrgenommen werden. Wenn das Leute wären, die in Deutschland von heimischen Eltern abstammten, würde die Gesellschaft das nicht tolerieren. «Bushido und seine Kollegen fungieren auch als ungezähmte, gefährliche Wilde, für die die Gesetze der Zivilisation nicht gelten und die sich als Identifikation für all jene anbieten, die diesen Gesetzen für die Dauer des Musikhörens entfliehen möchten.» (S. 47) Damit nennt Balzer zwei verschiedenartige Publika für diese Musik: die einen haben ähnliche Biografien wie die Rapper selbst, die anderen, leiden an den Zwängen der Zivilisation und brechen für die Dauer des Musikhörens aus ihrer engen Welt aus.
Die linke Kritik versucht tolerant zu sein, macht aber auch einen auf Vogel-Strauss. Theoretisch wird die kognitive Dissonanz dann mit einer dialektischen (oder wie soll man das nennen?) Denkfigur bewältigt: Nicht die Gangstaraper tragen die Schuld am Hass, den sie verbreiten, sondern die Gesellschaft, die selbst rassistisch, sexistisch und homophob sei. Statt die Rapper zu kritisieren, werden sie als Spiegel oder als nützliche Idioten einer kranken Gesellschaft gesehen. Aber wie ist das mit rechten Kulturkritikern (falls es sie gibt): Nehmen sie die Sprechweise und die Werte tatsächlich auf? Dazu sagt Balzer leider nichts. Er hinterfragt auch nicht den Zusammenhang des Gangstaraps mit dem Rechtsrutsch in Europa und Amerika. Es steht offenbar nicht in Frage, dass es diesen Zusammenhang gibt.
Würdigung und Bedenken
Diese Auseinandersetzungen mit dem Populismus in der Gegenwartsmusik sowie mit Musikgenres, die bei Musikjournalist*innen wenig beliebt sind, ist löblich. Welcher Musikjournalist lässt sich schon gerne in die Niederungen von Deutschem Gangstarap, Heimatrock und Helene Fischer hinab. Die Anstrengung, sich auf fremdes Territorium zu begeben, war es wert.
Als Leser von «Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik» denke ich über folgendes nach: Zuerst einmal glaube ich nicht so recht an den Verantwortungs-Appell, den Balzer in den Untertitel seines Buchs geschrieben hat. Radikale Kunst von links und rechts kann nicht mit Vernunft therapiert werden. Vermutlich sollten wir die Grenze zwischen Kunst und Politik hüten. So lange Avantgarden oder in neuerer Zeit Genres wie Gangstarap (früher war es Musik die man «Rock von rechts» titulierte oder rechtsextremer Metal) von ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams agieren, sind sie relativ harmlos. Klar, sie provozieren und das sehr. Aber erst wenn die Ästhetik in die Politik und in den Alltag der Massen eindringt, wird es gefährlich (Nazi-Deutschland). Und wir sollten uns bewussts sein, dass Dünkel unsererseits, Verachtung und Ekel vor radikaler Kunst, diese nur noch umso mehr anstachelt. Acts wie Kollegah und Farid Bang haben nicht nur kraft ihrer Performance eine so grosse Anhängerschaft. Es sind Wertungen in der Gesellschaft, die Klassen und Gruppen bilden, die inkludieren und ausschliessen. Wen wundert's wenn die Ausgeschlossenen sticheln und provozieren? Es ist die Art, wie man als Outsider doch eine authentische Stimme erheben kann. Man inszeniert sich als Outsider und provoziert die Insider. Deren Verachtung bestätigt die Provozierenden in ihrem Outsidertum. Ein Teufelskreis.
In den 1980er Jahren bewirkten Politikergattinnen wie Tipper Gore, dass an Schallplatten mit radikale Musik Parental Advisory Kleber aufgebracht wurden. Die Aktion war so lächerlich, dass man in der alternativen Szene bald stolz darauf war, wenn der Kleber aufgebracht wurde.
Der Befund, dass Gangstarapper und Heimatrocker sich nicht an den Wagen neuer Rechtsparteien anspannen lassen, zeigt eigentlich deutlich, dass sie, auch wenn sie sich in ihren Texten rassistisch, sexistisch, antisemitisch äussern, dies bewusst im Feld der Kunst machen und darum herum eine klare Grenze ziehen – wenigstens bisher. Vielleicht lohnt sich eine opportunistische Haltung gegenüber der rechten Politik gegenwärtig noch nicht, aber wenn der Wind mal ändert, dann könnten sich auch die Grenzen auflösen. Das wissen wir (noch) nicht.
Es zeigt sich bei Aufzeichnungen der Echo-Awardshow deutlich, dass auch Kollegah und Farid Bang begriffen haben, dass im Feld von Pop und Kunst Dinge gesagt werden dürfen, die eben nicht so gemeint sind. Die Gesellschaft mutet sich selbst zu, dass ihre Künstlerinnen und Künstler mit Identitäten, Lebensformen, Diskursformen oder Inszenierungen experimentieren dürfen. Und das nehmen sie für sich und ihre Raps in Anspruch, auch wenn die Elite ihnen unterstellt, dass sie als Einwanderer und dümmliche Gangsterrapper diesen Unterschied gar nicht begreifen würden. Dieser Dünkel stachelt die Rapper umso mehr an, weiter zu provozieren, und ihr Publikum «Nutte bounce» mitzujohlen. Wer selbst einmal auf radikale Musik gestanden ist, weiss das.
Update nötig
Nach nur fünf Jahren ist im Feld der Politik so viel geschehen, dass ein Update des Buchs sehr spannend zu lesen wäre. Putin der Gangsta oder die polarisierten Wahlen in den USA gäben den Stoff her.
Weitere Quellen
– Deutschrap ideal: ECHO-SKANDAL 2018: War es nur eine Wette zwischen Kollegah & Farid Bang? | + Geleaktes Handyvideo (5. Februar 2023)

Link zum Inhalt: [M]

Beyoncé: Cowboy Carter

Das ist keine Rezension, sondern eine Meinung:
Es wird diskutiert, ob weisse Kids, die mit Dreadlocks herumlaufen, kulturelle Aneignung betreiben und Beyoncé, eine der reichsten Frauen in der Musikwelt macht dieses Album? In dieser Zeit, in der die politischen Fronten in den USA sich erneut verhärten und wir auf die unangenehmsten Wahlen in der Geschichte zu steuern? Ist das nicht dumm, ungeschickt und ein unschönes Spiel mit der kulturellen Aneignung?
Es ist schon klar, dass Beyoncé in Texas aufgewachsen ist und in einer Welt lebt, in der Country und afroamerikanische Musik gleichermassen zuhause sind. Ich ärgere mich nicht darüber, dass Beyoncé ein Country-Album macht (wenn es denn eines ist, vielleicht nennt man es besser ein «Crossover» Album). Daddy Lessons war ein grossartiger Song, den ich bis heute gerne höre. Ich ärgere mich über den Zeitpunkt von «Cowboy Carter», der unnötig provozierend wirkt.
Warum muss eine Spitzenkünstlerin andere Spitzenkünstlerinnen und Künstler covern («Blackbird» und «Joleene»)? Fördert das nicht die populistische Erzählung von der Elite, die sich selber begünstigt? Die USA würden andere Zeichen als dieses brauchen!

Link zum Inhalt: [M]

musical comedy

Eine «musical comedy» (musikalische Komödie) ist ein unterhaltendes/leichtes Theaterstück mit eingelegten Songs und Tanznummern. Die Bezeichnung wurde zwischen etwa 1920 und 1970 hauptsächlich als Untertitel von Broadway-Shows verwendet.
In den USA haben sich «musical comedies» aus den Revuen entwickelt, die in der Zeit zwischen 1900 und 1920 beliebt waren, z.B. diejenigen von George M. Cohan oder Florenz Ziegfeld (1910er Jahre). Revuen waren inhaltlich unzusammenhängend und hatten einen Schwerpunkt bei der tänzerischen Darbietung («chorus girls»).
Dagegen hatten «musical comedies» eine durchgehende Handlung, in die Tanz- und Gesangsnummern integriert wurden.
Frühe «musical comedies» waren «Fifty Million Frenchmen» (1929), «Anything Goes» (1934) von Cole Porter, «No, No, Nanette» (1925) Vincent Youmans, «Oh, Kay!» (1926) von George Gershwin.
Dann kamen die «book musicals»: eine Politsatire «Of Thee I Sing» (1931) von George Gershwin, die Antiken-Parodien von Richard Rodgers und Lorenz Hart («The Boys from Syracuse» (1938) sowie die sarkastische Literaturvertonung «Pal Joey» (1940). Sehr erfolgreich war die Produktion «On Your Toes» (1936) von Richard Rodgers mit der Choreografie von George Balanchine.
Ende
«Musical comedies» wurden mehr und mehr vom Tonfilm aufgegriffen und weitergetragen (siehe American musical-comedy film).

Link zum Inhalt: [M]

Musikzimmer: British Invasion 1964-1967, US Top 20 Hits

Diese Liste verzeichnet alle US-Top-20-Hit Singles der British Invasion zwischen 1964 und 1967 in chronologischer Ordnung – also britische Bands, die mit ihren Singles in den USA erfolgreich waren. Sie beruht auf einem Spreadsheet von Musikzimmer, das alle britischen Top-20-Hits in den Billboard Hot 100 Charts aus den genannten Jahren verzeichnet.

Link zum Inhalt: [M]

Ramones: Blitzkrieg Bop

Der Song ist über weiteste Strecken als Drei-Akkord-Song aufgebaut (I–IV–V). Einzig im Chorus kommt eine kurze Abwechslung in Moll (ii). «Blitzkrieg Bop» entspricht damit dem Punk-Ethos, dass zwei oder drei Akkorde genügen, um einen Popsong zu spielen. Beim Gebrauch der Akkorde fällt auf, dass Tonika, Subdominante und Dominante nicht wie in der Klassischen Musik oder im Jazz, dazu verwendet werden, Spannung aufzubauen und wieder aufzulösen. Es ist in den Verses eher als wäre die Tonika ein lärmiges Stahlgewitter («tight wind», «steam heat»), das mit einer Art Riff (IV–V) verziert ist. Die Spannung ist wie ein Ornament zum Tonika-Akkord. Harmonisch sorgt es für eine kurze Abwechslung der Monotonie. Das Ziel ist nicht, die Monotonie der Tonika wiederherzustellen, die Harmonische Figur aufzulösen, sondern gerade umgekehrt, kurz aus der Monotonie der Tonika auszubrechen. Voilà, das ist Punk. «All revved up and ready to go».
Warum eigentlich heisst der Song «Bop»? Weil es gut klingt (Assonanz mit «Blitz...»)? Weil der Song etwas mit Bebop gemein hat? Das wohl eher nicht, weil er gerade das Gegenteil des virtuosen Bebops darstellt. Ironie? Oder hat die Wortwahl mit der praktischen Kurzhaar-Frisur für Frauen aus den 1960er Jahren zu tun? Das andere Wort im Titel, der «Blitzkrieg», bezeichnet die militärische Strategie, einen Gegner mit einem schnell ausgeführten und verlustreichen Schlag zu demoralisieren. Hitlers Armee führte im Zweiten Weltkrieg einen Blitzkrieg gegen England. Dass das Lied ausgerechnet dort dermassen erfolgreich war, ist dann wirklich eine Ironie. Und ausserdem trifft «Blitzkrieg» die Wirkung, die die Ramones bei ihrem ersten Konzert in London gehabt haben, sehr genau. Nach dem Auftritt der Band am 4. Juli 1976 im Roundhouse wurden Dutzende von Punkbands gegründet. An Weihnachten war Punk dank den Sex Pistols, die einen TV-Skandal auslösten, das Stadtgespräch (siehe: The Grundy Show Incident).

Link zum Inhalt: [M]

WILLOW: Symptoms of Life

Da Gegenwartsmusik oft so anspruchslos ist, obwohl viele der jungen Leute Musik studiert haben, fragt man sich zuweilen, wo die Musik bleibt, die harmonisch, melodisch und rhythmisch interessant ist. Nun, hier ist sie. WILLOW ist die Tochter von Will Smith, dem Rapper und Schauspieler. Sie ist bereits seit jahren als Musikerin unterwegs. Ihr neuer Song «Symptoms of Life» kommt in einem 7-4-Takt, mit jazzigen Cluster-Akkorden (Am7(♭13), Fmaj9(#11), Gsus4(add13), Dm11) und einem Tupfer im phrygischen Modus. Früher hat man so etwas «Prog» genannt. Nun ist dieser Song auf interessante Weise sehr unruhig, klingt aber wie eine Hybride aus R'n'B und Pop. «Fusion», um noch einen Begriff aus der Vergangenheit zu gebrauchen. Erstaunlich eingängig.
Quellen
– David Bennett: the craziest pop song of the 21st century

Link zum Inhalt: [M]

Edward M. Favor: Daisy Bell (Bicycle Built For Two)

Ein Erfolgs-Song aus der britischen Music Hall in der Zeit der Belle Époque. Auf der Bühne erfolgreich interpretiert von der Sängerin Katie Lawrence. In den USA war es die Vaudeville-Sängerin Jennie Lindsay im «Atlantic Gardens» in der Bowery, die «Dasy Bell» bekannt machte. Edward M. Favor war der erste Sänger, von dem das «Daisy Bell» Lied auf einem Wachszylinder aufgenommen wurde.
Der Chorus des Songs war ein eingängiges «Singalong», bei das Besucherinnen und Besucher der Musichall lauthals mitgesungen haben. Die Verses sind voller humoristisch-doppeldeutiger Wortspiele: Daisy ist der Name einer unverbindlichen Geliebten und der Margeriten-Blume (sie liebt mich – sie liebt mich nicht). «Bell» steht für die Glocke am Tandem, auf dem die Hochzeitsfahrt geplant ist, ist aber auch der homophone Kosename der Frau.
Blur haben den Song stimmig als Singalong-Punknummer aufgenommen (zu finden auf der Deluxe Ausgabe von Modern Life Is Rubbish).

1961 hat Max Matthews, der Computermusik-Pionier der Bell-Laboratories, «Daisy Bell» auf einem IBM 7090 programmiert, dem damals fürenden System der künstlichen Sprachsynthese. bekannt geworden ist diese synthetische Version des Songs durch den Film 2001. A Space Odyssey, in dem der Bordcomputer HAL 9000 während seiner Abschaltung «Daisy Bell» singt.

Link zum Inhalt: [M]

Alice Coltrane: The Carnegie Hall Concert

Alice Coltrane war mehr als die Lückenfüllerin für ihren Ehemann John Coltrane. Das zeigte sich anhand verschiedener (Wieder-)Veröffentlichungen in den letzten Jahren. Turiya Sings demonstriert exemplarisch die Originalität und Unabhängigkeit von ihrem Ehemann. Frauen in Pop und Jazz wurden (und werden traurigerweise noch immer) zuunrecht in den Schatten von Männern gestellt. Denke hier an Nancy Sinatra oder Yoko Ono.
Alice Coltranes «Carnegie Hall Concert» von 1971 weist zwei distinkte Teile auf: In der ersten Hälfte des Auftritts spielten sie und ihre Formation Musik aus dem gefeiertem Album Journey in Satchidananda. Die Live-Interpretationen konzentrieren sich auf die meditative Schönheit und präsentieren Coltranes grossartiges Harfenspiel neben den schwebenden Saxofonsolos von Archie Shepp und Pharoah Sanders sowie dem hypnotischen Schlagzeugspiel von Ed Blackwell und Clifford Jarvis. Die zweite Hälfte steht in einem auffälligen Kontrast dazu: Hier wechselte Coltrane ans Klavier und spielte lange, intensive Arrangements von Kompositionen John Coltranes. Ihre Interpretationen fielen roh und heftig aus, wobei Coltranes kraftvolles Klavier die Bühne dominierte und den Geist von John Coltranes Ära der «ekstatischen Feuermusik» (Hank Shteamer von Pitchfork) heraufbeschwörte (u.a. Meditations, Transition, Infinity). Alice Coltrane bewies sich damit als eigenständige wilde musikalische Kraft, die sich mit den intensivsten Free-Jazz-Pianisten vergleichen liess, auch wenn das Publikum teilweise durch sie hindurchhörte, um verzweifelt die Echos von John zu vernehmen.
Das «Carnegie Hall Concert» zeigt Alice Coltrane vor allem mit dem zweiten Teil als Fackelträgerin der Musik ihres Ehemanns. Deutlich wird aber auch, dass sie diese Fackel nicht nur trägt, sondern mit ihr noch weiter nach draussen stürmt. Dieses Album trägt zur weiteren Anerkennung der Musikerin und ihrer Tonkunst bei.
Die Aufzeichnung
Da die 4-Spur-Masterbänder des Konzerts verloren gingen, wurde diese Veröffentlichung aus den 2-Spur-Bändern, die als Referenzmix mitliefen, rekonstruiert.

Link zum Inhalt: [M]

Erweiterte Akkorde

Erweiterte Akkorde sind Triaden mit weiteren Tönen im Terzabstand, die auf die Triade bzw. auf den Septakkord geschichtet werden: der neunte, elfte und dreizehnte Ton. Wenn die erweiterten Triaden chromatische Alternativen zu den erweiterten Tönen darstellen, werden sie «Altered Chords» genannt.
Chromatische Erweiterungen: «Altered Chords»
Es gibt folgende Töne, aus denen Altered Chords gebildet werden:
– ♭9 oder #9 (während 9 der erweiterte Akkord ist)
– #11 (oder ♭5) – ♭11 ist identisch mit der ersten Terz im Grundakkord
– ♭13 (oder #5) – #13 ist identisch mit dem ♭7 im Septakkord
Somit bleiben vier Töne: ♭9, #9, #11 und ♭13 (= #5). Mit ihnen kann man eine «altered scale» bilden: z.B. G–♭a–#a–b–#c–♭13–F. Diese «altered scale» wird auch «superlocrian» oder «diminished wholetone scale» genannt. Die Töne dieser Skala können verwendet werden, um im Jazz zu improvisieren: Erweiterte Akkorde können mit einem oder mehreren verschiedenen Tönen der «altered scale» geschmückt werden. Oder die ii-V-I-Progression wird an der zweiten Stelle (bei der V) mit beliebigen Tönen aus der «altered Scale» erweitert (z.B. iim7–Valt–i(7) oder auch iim7–V7–Valt–i(7)).
Kulturelle Bedeutung
Für die afroamerikanische Musik haben «altered chords» eine wichtige Bedeutung. Die Musik wird in einem tonalen und harmonischen Bereich angesiedelt, der von der europäischen Musik nicht besetzt ist, gewissermassen in einem musikalischen Niemandsland. Analog verfuhr die afroamerikanische Musik mit dem Rhythmus: Die Synkopen in Ragtime und Jazz sind rhythmische Akzente, die auf die nicht akzentuierten und unerwarteten Stellen des Rhythmus verlegt wurden. Mit beiden Verschiebungen wurde eine neue, ganz andere Musik geschaffen, die auf ihre Weise mit der romantischen Musiktradition brach.
Quelle
– Michael Keithson: Altered Chords | What, Why, How

Link zum Inhalt: [M]

Gesellschaftliche Semantik

Die Semantik bzw. Bedeutungslehre ist die Teildisziplin der Linguistik, die sich mit der Bedeutung von Wörtern befasst. Das Wort «Semantik» ist aus dem Altgriechischen abgeleitet, von «σημαίνειν» (sēmaínein), was mit «bezeichnen» oder «ein Zeichen geben» übersetzt werden kann. Die Semantik ist die Grundlagentheorie für die Lexikologie, die den Wortschatz einer Sprache inventarisert. Sie ist aber auch eine philosophische Disziplin, die sich mit der Beziehung zwischen Wörtern und dem von ihnen Bezeichneten (der Welt) auseinandersetzt. Hier wird dann beispielsweise über Wahrheit, Richtigkeit, Genauigkeit etc. nachgedacht.
Semantik als Teildisziplin der Semiotik
Die Semantik selbst ist eine von drei Disziplinen der Semiotik. Der Terminus «Semiotik» hat die gleiche Wortherkunft wie die Semantik. Semiotik heisst «allgemeine Zeichentheorie». Eine solche allgemeine Zeichentheorie besteht aus drei Teildisziplinen: Syntaktik, Semantik und Pragmatik, wobei die Syntaktik untersucht, wie Zeichen aufgebaut und zusammengesetzt sind (z.B. wie aus Laut oder Schriftbildern Wörter und Sätze gebildet werden), die Semantik, was die Zeichen bedeuten, und die Pragmatik, wie Zeichen verwendet werden, wie man mit ihnen handelt. Eine solche allgemeine Semiotik hat den Anspruch, alle Kommunikationsarten zu umfassen: menschliche Sprachen, tierisches Ausdrucksverhalten, Verkehrsschilder, Gebärdensprache, Heraldik, Kunstwerke usw.
Semantik und Information(stheorie)
Die eher statistsiche und quantitative Informationstheorie spricht ebenfalls von der Semantik einer Informationsfolge und meint damit, dass eine Folge von Zeichen bzw. Bits auf statistische Weise bedeutsam ist. Nämlich so: Eine Zufallsfolge hat keine Bedeutung und den höchsten Informationsgrad. Eine nicht zufällige Zeichenfolge hingegen hat Bedeutung und benutzt redundante Informationen, um diese Bedeutung zu etablieren.
Strukturale Semantik
Semantik wurde in der neueren Zeit meist als strukturale Semantik betrieben. Der Strukturalismus versucht die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf einfachere Strukturen zurückzuführen. Man geht von einer Menge verwandter Wörter aus und sucht nach Kriterien, weshalb diese Wörter sich unterscheiden. Für die Welt der Möbel zum Sitzen hat Bernard Pottier (1963, S. 16) die strukturale Methode anschaulich gemacht. Sein Beispiel wurde immer wieder zitiert. Es ist paradigmatisch geworden, um das Vorgehen der strukturale Semantik bei Analysen zu erklären. Es gibt eine ganze Menge von Wörtern, die Sitzmöbel bezeichnen: «Stuhl», «Schemel», «Fauteuil», «Kanapee», «Pouf» usw. Nun versucht man den Unterschied der Bedeutung dieser Wörter zu erfassen. Dazu schreibt man die wesentlichen Merkmale von jedem Möbel auf. Bei diesen Merkmalen unterscheidet man zwischen wesentlichen (semantisch relevanten) und akzidentiellen (semantisch zufälligen, nicht relevanten) Merkmalen: Akzidentiell sind bei allen genannten Sitzmöbeln die Farbe oder das Material, aus dem sie hergestellt sind. Wesentlich hingegen sind sechs Merkmale, um Pottiers fünf Arten von Sitzgelegenheiten auseinanderzuhalten: Diese relevanten Merkmale nennt man auch «Seme» (s):

  s1 s2 s3 s4 s5 s6
chaise + + + + +
fauteuil + + + + + +
tabouret + + + +
canapé + + + + +
pouf + + +

Als Seme fungieren hier: «mit Rückenlehe», «mit Armlehne», «für eine Person», «Möbel zum Sitzen», «mit Polsterung». Mit diesen Semen kann man nun jedes Sitzmöbel analysieren und präzis zuordnen: Man macht einen Entscheidungsbaum und fragt: «Hat die Sitzgelegenheit eine Rückenlehne oder nicht?» Wenn nein, ist es entweder ein «Schemel» («tabouret») oder ein «Pouf». Man fragt dann weiter: «Hat das Möbel Beine oder nicht?» Je nachdem ist es das eine oder das andere. Falls das Möbel eine Rückenlehne hat, fragt man: «Dient es zum Sitzen von einer oder mehrerer Personen?» Wenn von mehrerer Personen, dann ist es ein «Fauteuil». Und so weiter. Auf diese Weise lässt sich die Welt des Bezeichneten auf Seme zurückführen, die als «semantische Oppositionen» solche Entscheidungsbäume bilden.
Eine philosophische Frage ist, welchen ontologischen Status die Strukturen haben, die man mit dieser Methode hinter der Vielfältigkeit der Erscheinungen findet. Sind sie die Welt an sich, bilden sie eine von dieser Welt an sich unabhängige sprachliche Ordnung oder sind sie ein konventionelles Konstrukt, das auch anders sein könnte? Diese Frage muss hier offen bleiben.
Soziologische Semantik
Viele Gesellschaftstheorien (Soziologie) gehen davon aus, dass es gesellschaftsrelevante semantische Oppositionen gibt, die für soziale Systeme strukturbildend sind. Somit lassen sich verschiedene soziale oder politische Identitäten bzw. Mentalitäten ähnlich behandeln wie oben die Sitzmöbel. Die strukturale Methode lässt sich beispielsweise für die Politologie auf die Parteienlandschaft eines bestimmten Landes, für die Geschichte auf historische Epochen oder die Marktforschung auf Konsumentengruppen anwenden.
In der soziologsichen Systemtheorie (z.B. Niklas Luhmann) wird unter Semantik ein Wissensvorrat des Gesellschaftssystems verstanden. Dieses wird laufend und in der Regel ohne nachzudenken und ohne zu reflektieren repliziert. Konkretisieren kann man die gesellschaftliche Semantik als offizielles Gedächtnis, kulturelles Erbe, bedeutsame und bewahrenswerte Leitvorstellungen, Standardisierungen des Wahrnehmens, Denkens, Handelns und Redens, sofern diese auf semantischen Differenzen beruhen. Die Systemthorie schliesst, was die gesellschaftliche Semantik betrifft, relativ nahtlos an den Strukturalismus an bzw. steht in deren Tradition.
Sowohl Linguistik und Soziologie wissen, dass die Strukturen, die mit der strukturalen Methode gefunden werden, immer nur für eine gewisse Zeit gilt. Die gefundenen Strukturen sind selbst historisch, d.h. diese semantischen Differenzen bilden keine ewigen und unveränderlichen Strukturen, sondern sind geschichtlichen Veränderungen ausgesetzt. Die Parteienlandschaft in Deutschland in der Zwischenkriegzeit ist eine andere als diejenige im Kalten Krieg. Deshalb bezeichnen Begriffe wie «links», «Mitte» oder «rechts» zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedliche politische Programme und Einstellungen.
Beispiele von semantischen Differenzen aus der gesellschaftlichen Semantik
– brutal – gezähmt (auch roh und gekocht bei Claude Lévi-Strauss)
– männlich - weiblich
– Herkunft – Zukunft
Gesellschaftliche Semantik in der Populären Musik
Mit dem strukturalen Konzept der semantischen Oppositionen lassen sich beispielsweise Radioformate, musikalische Genres oder der musikalische Geschmack einer Zeit untersuchen. Es zeigt sich dann, dass zum Beispiel der amerikanische Musikmarkt nicht einheitlich oder homogen ist, sondern heterogen (Illustration oben). Struktrale Oppositionen schaffen verschiedene Musikmärkte für ein weisses und ein afroamerikanisches Publikum, für eine urbanes und ein rurales Publikum. Deshalb gibt es verschiedene Musikmärkte für Pop, Country und Afroamericana. Jeder dieser Märkte hat seine eigenen Produzenten, Konsumenten, Medien, ästhetischen Wertvorstellungen. Deshalb findet man diese marktkonstituierenden Oppositionen auch in Texten, die über Musik sprechen (z.B. in Rezensionen, Geschichtlichen Darstellungen, Musiker*innen- und Band-Biografien etc.).
Beispiele von releavanten semantischen Oppositionen in der Musik:
E- und U-Musik, auch reine – funktionale Musik
– Stadt – Land, auch als «urban» – «country», «urban» – «rural»
– weiss – schwarz bzw. europäisch – afrikanisch
– heteronom – autonom, auch als Unterscheidung von Pop – Rock
– natürlich – artifiziell, auch als Folklore – Kunstmusik
Beobachtungen unter dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Semantik
Man weiss, dass die selben Dinge verschiedene Namen haben können. Das gilt auch für die semantischen Oppositionen, mit denen man ein Feld untersucht. Am Fall der Verortung der Musik der frühen Beatles in der Musik ihrer Zeit, also von 1962 bis 1964, lassen sich die drei gesellschaftliche Ordnungen ausmachen, die die Illustration oben dartellt. Es gab 1962 in den USA drei Musikmärkte, die sich mit zwei Oppositionen «afroamerikanisch – weiss» und «urban – rural» definieren lassen. Es gab auch verschiedene musikalische Ästhetiken, die sich mit der Oppositon «traditionell vs. modern» (auch «jung – alt») bzw. mit « authentisch – kommerziell» beschreiben lassen. Es stand nie in Frage, dass die frühe Musik der Beatles in die Tradition der Popmusik gehörte. Ihre Singles erscheinen in den Billboard Hot 100.
In den USA wird am Anfang der 1960er Jahre unter drei langlebigen musikalischen Traditionen unterschieden: Pop, C&W und R&B. Diese Traditionen bestehen bis heute als Pop, Country und R&B, auch wenn se mittlerweile von neueren Genres ergänzt worden sind (Latin, Hip-Hop). Für diese Musikmärkte wurden meist verschiedene Hitparaden erhoben. Interessanterweise fiel gerade 1964, als die beatles in Amerika durchbrachen, die Opposition zwischen schwarz und weiss zusammen. Möglicherweise unter dem Druck der Bürgerrechtsbewegung, sicher aber unter dem Eindruck des Erfolgs vom Motown-Label. Für etwa ein Jahr war afroamerikanische urbane Musik deckungsgleich mit weisser urbaner Musik. Die alte Opposition wurde allerdings 1965 wieder eingeführt und blieb seither bestehen.
Ein zweiter Unterschied wurde zwischen Pop für junge Leute (Elvis Presley, Beatles) und Pop für nicht mehr junge Leute (Frank Sinatra) gemacht. Beide Formen von Pop waren erfolgreich und gesellschaftlich relevant. Aber eine Radiostation, die die eine Musik spielte hat kaum die andere gespielt und die Käufer*innen der einen deckten sich kaum mit den Käufer*innen der anderen. Die Beatles gehören klar ins Feld der jungen Popmusik, aber sie haben vereinzelt – auch in der Ed Sullivan Show, wo das passte – einen Titel aus dem Great American Songbook interpretiert («Till There Was You»), was eher von Sinatra zu erwarten war. Wenn man Zeitungstexte liest, die den Auftritt der Beatles im US-Fernsehen rezensieren, dann wird die Kluft zwischen alter und junger Popmusik augenfällig: Die Musikjournalist*innen schreiben oft: «Die Beatles können nicht singen.» Das vorherrschende Modell ist Frank Sinatra bzw. die traditionelle statt die junge Popmusik.
Der dritte Unterschied am Anfang der 1960er Jahre war derjenige zwischen Folk und Pop. Er war geprägt vom Anspruch des Publikums an die Musik, die es hört. Pop und Rock ‘n’ Roll wurden von Jugendlichen gehört, die sich in ihrem Geschmack an einer (konformen) Mehrheit ausrichten, während Folk von gebildeten Leuten gehört (und mitgesungen!) wird, die sich gerne unkonform geben. Das Ideal von Folk ist, dass man selbst musiziert und singt. Pop ladet in den Augen der Folkies zu nichts anderem ein als zum Konsum: Platten kaufen, mit der Mode mitgehen, … Viele der Folk-Hörer*innen hatten dezidierte politische Haltungen und engagieren sich in der Bürgerrechtsbewegungoder gegen Vietnamkrieg und Atomwaffen. Folkies hatten Ideale, Pop-Hörer*innen Idole.
Mit dieser dritten semantischen Opposition im gesellschaftlichen Feld der Musik geschah im Lauf der 1960er Jahre etwas Interessantes. Die Opposition verschwand nicht, sondern wandelte sich zu einer, die andere musikalsiche Genres trennte. Am Anfang der 1960er Jahre markierte die Opposition eine Grenze zwischen Folk und Pop (wozu auch Rock 'n' Roll gehörte). Am Ende der Dekade hingegen bezeichnete die selbe Opposition die Grenze zwischen Rock und Pop. Nun war Rock die Musik für kritische Leute mit Idealen und Pop war weiterhin kommerzielle Musik ohne diese Investition in eine Haltung oder Überzeugung. Die Beatles haben den Sprung von der eine Seite der Opposition auf die andere durch ihre Freundschaft mit Bob Dylan bwerkstelligt und mit einer Reihe von Singles und LPs, mit denen Sie künstlerische Ambition zeigten. Diese Ambition wurde wichtiger als alle kommerziellen Überlegungen. Dylan verbleib auf der Seite, in der er schon zuvor war. Seine Musik wandelte sich aber und mit ihr die Begrifflichkeiten: Der elektrische Folk, den er in verschiedenen Formen am Ende des Jahrzehnts spielte, galt als Rockmusik (als Folkrock oder SInger-Songwriter).
Die Opposition zwischen Folk und Pop bzw. Rock und Pop war eine gesellschaftlich stark gewertete: Folk und Rock wurde von der jungen Elite des Landes (das war damals die Ober- und die Mittelklasse) gehört. Sie war auf der Macher-Seite stark von Männern besetzt. (Die meisten Männer spielten und hörten Rock, während die Frauen Pop spielten und sangen.)
Der Unterschied zwischen Pop und Rock könnte ein Buch füllen, aber der Einfachheit halber kann man sagen, dass Pop in der Regel von Interpretinnen und Interpreten gesungen wird, die diesen Song nicht selbst geschrieben haben und den sie oder er in der Regel auch nicht selber instrumental begleiten. Rockmusik wird dagegen meist von einer Band gespielt, die von der Zeit der Beatles an den Song selber schreiben und die Musik selbst interpretieren.
Es ist eklatant, wie überdauernd eine etablierte gesellschaftliche Semantik ist. Semantische Oppositionen haben oft epochenüberschreitenden Bestand. Auch hinter musikalischen Entwicklungen, Hybridisierungen, modischen Umbenennungen blieben die sie als gesellschaftliche Ordnung bestehen.
Der ontologische Status der Seme und der Oppositionen
Philosophisch gibt es mehrere Auffassungen, wie die Strukturen aus semantischen Oppositionen sich zur Welt bzw. zu den Phänomenen verhalten. Diese Auffassungen stehen selbst wiederum in Denktraditionen, die älter sind als der Strukturalismus oder die Systemtheorie. Die alten Griechen, denen die Erfindung der Philosophie zugeschrieben wird, dachten über das Wesen nach, das sie «ousia» nannten. Die klassich-griechische Philosophie warf die grundlegenden Fragen nach dem Wahren, Guten und Schönen auf. Sie lehrte: Wenn das Wahre, Gute und Schöne nicht zufällig sein soll (so wie die Mode es diktiert oder die, die die Macht haben), dass man sich ein Wesen denken muss, etwas an der Sache, das persistiert, unwandelbar ist und unauflöslich. Das Gute sei immer das selbe Gute oder auf die selbe Weise gut, unabhängig davon, welcher Herrscher geltende Gesetze erlassen habe. Platon nannte dieses Wesen auch Idee. Die Philosophiegeschichte, die auf diese griechischen Denker folgte, hat immer weider versucht zu bestimmen, wie sich das Wesen oder die Idee zu den Dingen verhält. Die einen haben gesagt, diese Wesenheiten seien Ewig und existieren ausserhalb der Dinge. Die anderen sagten, sie seien in den Dingen. Bezüglich der Erkenntnis meinten die einen, sie seien in den Dingen und wir erkennen sie, indem wir die Dinge betrachten, andere wiederum meinten, sie seien nicht in der Welt und werden von uns, wenn wir denken an die Dinge herangetragen. Es gab Philosophen, die sagten, man könne die Philosophiegeschichte als Geschichte von Kommentaren zur klassich-griechischen Philosophie lesen. Die Probleme seien von den Griechen aufgeworfen worden und konnten seither nicht abschliessend gelöst werden.
Wie auch immer – die Frage nach dem ontologischen Status der semantischen Strukturen bringt den selben reichhaltigen Strauss von Antworten hervor, den die Philosophiegeschichte auf die Frage nach dem Wesen hervorgebracht hat.
Querverweise
E- und U-Musik
Quellen
– Philipp Overberg: Merkmalssemantik vs. Prototypensemantik (Magisterarbeit, Münster, 1999)

Link zum Inhalt: [M]

Rolling Thunder Revue

Die «Rolling Thunder Revue» war eine von Bob Dylan angeführte Show, die in Nordamerika tourte und bei der eine Plethora von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern teilnahm: Joan Baez, Ramblin’ Jack Elliott, Allen Ginsberg, Roger McGuinn oder Joni Mitchell, die in Kanada einen Gastauftritt hatte und sich der Show spontan anschloss. Dylans Begleitband ist dieselbe wie auf dem Desire Album, das in der Winterpause der Revue aufgenommen wurde: Scarlet Rivera (Violine), Rob Stoner (Bass), Howie Wyeth (Drums) und Mick Ronson (Gitarre). Hinzu kamen auch die Gitarristen T-Bone Burnett, David Mansfield und Steven Soles, die nach der Tour zusammen die Alpha Band gründeten. Dylans Road Manager Bob Neuwirth nannte die gesamte Band der Revue GUAM.
Die Revue, die als zirkusartige Varieté-Show konzipiert war, wurde über 50 Mal aufgeführt (die eine Hälfte der Shows im Rahmen der Herbsttournee 1975 und die andere während der Früjahrstournee 1976). Seit dem ominösen Motorradunfall im Sommer 1966 zog sich Bob Dylan vom Konzertbetrieb zurück (ähnlich wie die Beatles kurze Zeit zuvor). Zurück kam er erst 1974, als er mit der Band tourte, was auf dem Album Before The Flood dokumentiert ist. Diese «Rolling Thunder Revue» war die zweite Tournee des Musikers in den 1970er Jahren.
Bob Dylans Karriere befand sich während der Rolling Thunder Revue auf einem kreativen Höhepunkt. Scarlet Rivera sagte zur «Rolling Thunder Revue»: «[Dylan] war während diesen Konzerten elektrisierend, hatte grenzenlose Energie und eine unglaubliche Leistungsstärke. Als er ‹Along the Watchtower› sang, war es einfach fesselnd. Seine Worte waren wie Stakkato-Kugeln. [...] Es war eine so kraftvolle und magische Erfahrung. Wir erhielten weltweit unverschämte Kritiken und die Tour war eine riesige Sensation. Für mich wurde bestätigt, dass ich mit einem lebenden Genie zusammen war, auf der Ebene eines Shakespeares unserer Zeit. Einfach tiefgründig – produktiv und tiefgründig.»
Musikhistorisch passt die «Roilling Thunder Revue» nur beschränkt zum Corporate-Rock, der zu jender Zeit vorherrschte und grosse kommerzielle Erfolge einzufahren vermochte. Ästhetisch ist die «Rolling Thunder Revue» eher ein Rückgriff auf die Folkrock-Phase und die Hippiezeit (selbstverständlich ohne die Naivität von damals zu reproduzieren). Um als Corporate-Rock durchzugehen, müsste Dylans Musik in den Mittsiebzigern besser produziert sein. Auch live setzt sich diese Tournee von den Megaacts jener Zeit ab: Viele Konzerte finden in kleinen Konzertsälen an Orten statt, wo der Corporate-Rockzirkus nicht mehr vorbeikommt. Insofern fällt die «Rolling Thunder Revue» zur Geschichte hinaus und ist das Werk eines Künstlers mit einer eigenen künstlerischen Vision. Dazu gehört, dass Dylan und seine Mitmusker*innen teilweise weiss geschminkt (als Clown) oder mit Maske auf der Bühne erschienen. Das Motto lautete: Wer aus einer Maske spricht, offenbart die Wahrheit. Auf und vor allem hinter der Bühne herrschte teilweise ein chaosartiges Durcheinander, was nicht wundert, wenn so viele hochkarätige Künstlerinnen zusammen kommen.
Die Konzertreihe wurde vielseitig medial begleitet: Larry Sloman schrieb das Buch «On the Road with Bob Dylan» (1978). Sam Shepard und Dylan produzierten den Film Renaldo and Clara mit Konzertausschnitten aus der Revue. Netflix veröffentlichte 2019 die Dokufiction Rolling Thunder Revue. A Bob Dylan Story by Martin Scorsese.
Quellen
– Concertarchives: Bob Dylan's 1975 Concert History
– Ray Padgett: Rob Stoner's Guide to Guam (9.11.2020) – Padgett hat das Buch Pledging My Time: Conversations with Bob Dylan Band Members geschrieben

Link zum Inhalt: [M]

John Leyton: Johnny Remember Me

«Johnny Remember Me» ist eine der frühen Songs, die man dem Goth Genre oder Stil zuordnen kann. Der Erzähler wird von einer toten Ex heimgesucht, die im Moor, einem der typischen Orte von Schauergeschichten, herumspukt. Dabei erfährt man weder ihren Namen, wie sie gestorben ist, noch ob der Erzähler dabei eine Rolle spielte.
Eine Platte, die von ausserhalb der etablierten britischen Musikwirtschaft kam. Eine unabhängige Produktion (von Joe Meek) und eines der ersten britischen Indielabels machten einen hörbaren Unterschied zu den Produktionen beim Decca oder bei den EMI-Labeln.
Strukturell ein ebenso unaufgeräumter wie interessanter Song, der weder eine AABA noch eine reine VC-Struktur aufweist. Die Teile sind anfangs 12 Takte lang, dann beginnen sie abzuweichen. Sie enthalten auch unvollständige Repetitionen aus anderen Teilen. Auch die ABC-Form kommt nicht in Frage, weil der Song keine grossen Kontraste aufweist. Würde man ihn als Verse-Chorus-Struktur aufräumen, entstünde eine Simple Verse-Chorus Form. «Johnny Remember Me» ist deshalb eine Rhapsodische Form, die aber durch einen Refrain «gekittet» ist.
Der Song war im UK ein Top-Hit und in Nowegen eine Nummer 4.

Link zum Inhalt: [M]